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Peter Handke: "Viele Leerstellen im Erzählen, aber vibrierende!"

Foto: AP Photo/Darko Vojinovic

Gerade erst ist mit Zwiegespräch ein neues Buch von Peter Handke erschienen. Hin und wieder lässt sich der Autor aber auch in die Notizbücher schauen. Es ist wieder einmal so weit. In Innere Dialoge an den Rändern entbergen sich auf knapp 400 Seiten Gedankennotate des Dichters, Exzerpte aus Tolstoi, Stifter oder Horoskopen sowie Arbeitsskizzen und geben damit einen Eindruck von dem, was vor und hinter den fertigen Werken des seit vielen Jahren bei Paris lebenden Autors steht. In vorliegendem Fall reichen die Notizen vom Jahre 2016 bis 2021. Laut Werkverzeichnis sind im betreffenden Zeitraum der Roman Die Obstdiebin, der kürzere Prosatext Das zweite Schwert oder das Stück Zdeněk Adamec entstanden. Sie haben Spuren in den Aufzeichnungen hinterlassen. Man kann sagen, in den wenige Zeilen kurzen Texten steckt geballt ein ganzer Handke.

Da finden sich so berückende Gedanken über das Menschsein wie "Prototyp des unbegabten Menschen: der Fraglose" oder "Gesundes Selbstvertrauen? Ja. Dagegen: kranke Selbstzufriedenheit". Man wähnt sich in einem Best-of Handke’schen Sinnens. "Ich bin verantwortlich denen gegenüber, die mir Gutes getan haben und tun", heißt es ein andermal. Auch Handkes Faible fürs Sticken schlägt sich nieder: "Mein Animismus: zu unterscheiden zwischen ‚gutmütigen‘ und ‚bösartigen‘ Zwirnfäden".

Nobelpreis unterbelichtet

Ein selbstbesticktes Hemd trug er übrigens zur Verleihung des Nobelpreises 2019, von dem man hier jedoch nichts liest. Hat er ihn so wenig berührt? Oder will er ihm, der ihn lange verschmäht hat und dann die Querelen um seine Haltung zum Jugoslawienkrieg wieder hat aufflammen lassen, aus Trotz verschweigen? Es bewahrheitet sich daran das poetologische Statement: "Viele Leerstellen im Erzählen, aber vibrierende!"

Man könnte sich vieles auch als Anregung anstreichen, die Welt einmal anders zu sehen. Die Angabe der Tagestemperatur als "2° unter der Zitronenfalteratmosphäre" ist originell. Vielleicht mag man sich zu den im Frühlingswind wehenden Grashalmen nach der Lektüre fortan wie der Dichter denken, "sie ‚flügeln‘".

"In der Fremde sein: manchmal geht nichts darüber", schreibt Handke. Diese Texte bringen einen in kürzester Zeit an herrlich ferne und losgelöste Gedankenorte. (Michael Wurmitzer, 30.4.2022)