Wir haben Krieg. Wir haben einen russischen Präsidenten, der ultra-brutal Krieg in unserer Nähe führt – und zugleich "Krieg auch mit Energielieferungen", wie die Energieministerin Leonore Gewessler (Grüne) sagt. Wir haben über sieben Prozent Inflation. Wir haben Aussicht auf eine Rezession, wenn das Gas ausbleibt und deswegen ganze Industriezweige ausfallen (quer durch Europa). Wir haben die (finanziellen) Folgen der Corona-Pandemie.

Haben wir auch eine regierungsfähige Regierung?

Die Kanzlerpartei ÖVP wird von einem Wust an Skandalen beeinträchtigt, die zum Teil Jahre in die Ära Kurz zurückreichen, aber nun auch wichtige schwarze Landeshauptmänner (Vorarlberg, möglicherweise andere) erfassen. Kanzler Karl Nehammer begeht reihenweise taktische Fehler. Er verweigert die Aufarbeitung der Skandale. Er verhindert nicht, dass ihm Vorvorgänger Sebastian Kurz beim Parteitag am 14. Mai die Show stiehlt. Er lässt den für sein Führungsimage bei konservativen Wählern immer noch fatalen Eindruck entstehen, dass sich seine Frau zu viel in seine Politik einmischt.

Die Regierung um Kanzler Nehammer vermittelt nicht, dass sie in der größten Krise seit Jahrzehnten einen Plan habe.
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Das wäre schon schlimm genug, aber die Regierung – nicht nur die ÖVP – vermittelt nicht, dass sie in der größten Krise seit Jahrzehnten einen Plan habe. Der Samen der katastrophalen Abhängigkeit vom russischen Gas und damit von einem skrupellosen Despoten wurde schon vor Jahren gelegt, in einer Mischung aus schwerer Fehleinschätzung Wladimir Putins und noch genauer zu untersuchenden Privatinteressen heimischer Manager und Unternehmer. Da herauszukommen, ist sehr schwer und dauert. Aber es reicht nicht zu einer klaren Ansage, zu einer, meinetwegen, "Blut, Schweiß und Tränen"-Rede. Die müsste der Kanzler liefern, und die grüne Energieministerin Gewessler müsste zumindest die Skizze eines Plans abgeben.

Es müsste zumindest Klartext geredet werden. Im Netz und unter politischen Beobachtern werden die Reden des deutschen Wirtschafts- und Energieministers Robert Habeck (Grüne) herumgereicht. Die sind Musterbeispiele an Offenheit, Realismus und Überzeugungskraft, sodass man schon von einem "Zweitkanzler" redet.

Die Regierung kämpft mit sich selbst

Nehammer hat außerdem die Defizite in der schwarzen (türkisen?) Ministerriege nicht beseitigt. Was zur Hölle soll eine "Rohstoffministerin" Elisabeth Köstinger? Von anderen Schwachmatikern ganz zu schweigen.

Aber auch der grüne Vizekanzler Werner Kogler nimmt seine Rolle als Cheferklärer nur schlecht wahr und ist von Abgangsgerüchten umwittert.

Österreich steuert (wie ganz Europa) auf eine ausgewachsene Krise zu, ist schon drin. Die türkis-grüne Koalition überzeugt bisher in bescheidenem Ausmaß. ÖVP/Grüne haben in Umfragen derzeit keine Mehrheit. Österreich-Wahlen wären kontraproduktiv. Pamela Rendi-Wagner, die SPÖ-Vorsitzende, tritt in letzter Zeit etwas überzeugender auf. Aber thematisch, etwa in Sachen Außenpolitik, hat sie wenig anzubieten. Eine alternative Koalition Rot-Grün-Neos hätte möglicherweise keine Mehrheit (weil die dubiose Anti-Impf-Partei MFG ins Parlament käme). Ganz entfernt am Horizont gäbe es die Möglichkeit einer Regierung der nationalen Einheit, wenn sich die Krise enorm verschärft.

Aber auf jeden Fall muss die existierende Regierung, die gerade noch regierungsfähig ist, ihre Performance entscheidend verbessern. (Hans Rauscher, 29.4.2022)