Schön sind sie anzuschauen, die Traditionen der Partei am 1. Mai: Nelke am Revers, rote Fahnen in Erwachsenen- und Luftballons in Kinderhänden, vor allem aber die Presseaussendung der SPÖ Wien über die fantastischen Teilnehmerzahlen. "Trotz der auslaufenden Omikron-Welle fanden sich 100.000 Menschen am Wiener Rathausplatz ein", stand in der mit "Ein 1. Mai wie früher" betitelten Mitteilung.

Zugegeben, auch in unserer Reportage war unwidersprochen zu lesen, dass derartige Massen an Sympathisantinnen am teils regnerischen Feiertag zusammenfanden. Immerhin mit dem Zusatz "SPÖ-Angaben zufolge". Doch diese Angaben lagen bereits am Sonntag so weit von den Schätzungen der Polizei entfernt wie die SPÖ in den letzten Jahren von einer Kanzlerschaft. 1.500 bis 2.000 Personen zählte die Exekutive.

Die Wahrheit liegt nicht dazwischen

Die Wahrheit liegt wohl irgendwo dazwischen, ist in solchen Fällen eine gern bemühte Plattitüde. In Zeiten, in denen Algorithmen aus Luftaufnahmen und anderen visuellen Quellen Kriegsverbrechen aufdecken können, sind wir aber gar nicht mehr auf solche Vermutungen angewiesen. Zum Glück, denn die Mitte wäre ziemlich falsch gewesen.

Angeregt durch einen Tweet von ORF-Kollege Lukas Lattinger haben wir Bilder von der Menschenmenge auf dem Rathausplatz durch eine Softwarebibliothek namens Lightweight Crowd Counting (LWCC) geschickt.

Foto: APA/FLORIAN WIESER

Die Polizei hat demnach mit ihrer Schätzung eine ziemliche Punktlandung hingelegt. Die drei Auswertungsmodelle der Software kamen auf 1.782, 1.922 und 2.359 Aufmarschteilnehmer. Eine gewisse Abweichung ist freilich nicht auszuschließen, da sich einige Personen hinter Plakaten oder Bäumen befunden haben. Zudem handelt es sich nur um den Zustand zum Zeitpunkt der Aufnahme gegen 11.30 Uhr.

Foto: APA/FLORIAN WIESER / LWCC-Output

Dass sich die Teilnehmerzahl von 100.000 Personen, die die SPÖ übrigens nicht nur heuer, sondern 15 weitere Male seit dem Jahr 2000 als Maiaufmarschkulisse angegeben hat, gar nicht ausgehen kann, zeigt eine überschlagsmäßige Berechnung der Raumverhältnisse. Je nachdem, wo auf dem Areal die Absperrungen angebracht sind, ergeben sich zwischen der Bühne vor dem Rathaus und dem Burgtheater maximal 10.000 Quadratmeter asphaltierte Fläche.

Es müssten also zehn Personen pro Quadratmeter den Worten von Parteichefin Pamela Rendi-Wagner und Bürgermeister Michael Ludwig gelauscht haben. Die Wiener Veranstaltungsstätten-Richtlinie erlaubt "für Stehplätze drei Personen je Quadratmeter Grundfläche (wobei Verkehrs- und Fluchtwege nicht mitzurechnen sind)". (mcmt, mol, 3.5.2022)