Kinder, die eine Sprache lernen, nutzen gut verständliche Wörter häufiger. Das wirkt sich auch darauf aus, wie sich Sprache weiterentwickelt.
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Wenn man versucht, geflüsterte Sprache zu verstehen, ist das eine kognitive Herausforderung: Was sich nur schwer enträtseln lässt, sorgt im Kopf manchmal für automatische Ergänzungen – bis hin zum Freud'schen Verhörer. Beim Kinderspiel Stille Post ist das Nachfragen, was nun wirklich gesprochen wurde, aber verboten. Vergleichbar vielleicht mit einem geselligen Abend in lauter Umgebung, bei dem es einem unangenehm ist, zum zweiten oder dritten Mal nachzuhaken, was gemeint ist. Nicht immer geht das vage-ahnungslose Nicken gut aus.

Mit ähnlichen Prozessen vergleichen Theresa Matzinger und Nikolaus Ritt von der Universität Wien den Sprachwandel. Was sich im Laufe der Jahrhunderte in einer Sprache – in diesem Fall der englischen – verändert, skizzierten die Forschenden im Fachmagazin "Cognitive Linguistics" anhand mittelalterlicher Texte. Ihre Erkenntnis: Häufige und daher prototypische Lautmuster werden vom Gehirn leichter wahrgenommen und erlernt – und folglich von Generation zu Generation immer häufiger benutzt.

Mehr als 40.000 Wörter analysiert

Heute gesprochene Sprachen unterscheiden sich oft grundlegend von jenen aus früheren Zeiten, nicht nur in ihrem Vokabular und ihrer Grammatik, sondern auch in der Aussprache. So wurde das englische Wort "make" (deutsch: machen) im frühen Mittelalter als "ma-ke" zweisilbig und mit kurzem "a" ausgesprochen, während es im späten Mittelalter zum einsilbigen "maak" mit langem "a" wurde. Der Verlust der zweiten Silbe und die gleichzeitige Verlängerung des Vokals wie beim Wort "make" kam bei vielen englischen Wörtern des Mittelalters vor, heißt es in einer Aussendung der Uni Wien.

Theresa Matzinger und Nikolaus Ritt vom Institut für Anglistik der Universität Wien haben in ihrer Studie untersucht, welche Faktoren für diesen Wandel von Sprachlauten verantwortlich sind und was solche Phänomene über die Fähigkeiten des Gehirns sagen können. Sie analysierten dazu mehr als 40.000 Wörter aus englischen Texten des frühen Mittelalters und bestimmten die Länge der Vokale darin, etwa mithilfe von Wörterbüchern oder durch Berücksichtigung angrenzender Laute.

Spielerische Entwicklung

Anhand der Häufigkeit von Wörtern mit langen und kurzen Vokalen zeigte sich, dass die Mehrheit der einsilbigen Wörter des Mittelalters lange und nur eine Minderheit kurze Vokale hatte. Den Forschenden zufolge wurden einsilbige Wörter mit kurzem Vokal von Zuhörern nicht so gut oder nicht so schnell erkannt oder erlernt, weil sie nicht in das gewohnte Lautmuster passten. "Wörter, die zu den häufig vorkommenden Lautmustern mit langem Vokal passten, konnten hingegen leichter vom Gehirn verarbeitet werden", erklärt Theresa Matzinger, die sich schwerpunktmäßig mit dem Zusammenhang von Sprache und Gehirn befasst.

Hier kommt der zu Beginn genannte Vergleich ins Spiel: "Man kann sich Sprachwandel wie ein Stille-Post-Spiel vorstellen", sagt die Wissenschafterin. Das leichtere Wahrnehmen und Erlernen von einsilbigen Wörtern mit langen Vokalen führte über Jahrhunderte hinweg dazu, dass immer mehr einsilbige Wörter lange Vokale bekamen.

Unterschiede über Generationen

Kinder würden Muster, die in der Sprache der Elterngeneration häufig vorkommen, besser wahrnehmen, sie daher schneller lernen und noch häufiger benutzen. Sie geben daher an ihre eigenen Kinder eine leicht veränderte Sprache weiter. Über Jahrhunderte hinweg würden so Sprachvarianten entstehen, die so unterschiedlich sind, dass man sie kaum mehr verstehen kann.

"In unserer Studie konnten wir zeigen, dass die allgemeine Fähigkeit unseres Gehirns, häufige Dinge bevorzugt wahrzunehmen und zu erlernen, ein wichtiger Faktor ist, der bestimmt, wie sich Sprachen verändern", sagt Matzinger. Die Fachleute wollen nun untersuchen, ob diese Häufigkeiten von sprachlichen Mustern auch bei anderen Sprachwandelphänomenen vorkommen – und ob sie auch in anderen Sprachen neben Englisch nachzuweisen sind. (red, APA, 6.5.2022)