Der Umgang mit Schutzsuchenden ist der Lackmustest für die europäische Demokratie, sagt die Migrationsforscherin Judith Kohlenberger im Gastkommentar.

Die Hilfe für Menschen, die aus der Ukraine flüchten, ist groß. Was ist mit den Schutzsuchenden in Moria?
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Es ist ein demokratisches Paradox: Das Staatsvolk bestimmt als Souverän über Gesetze, die mitunter supranationale Auswirkungen haben – also auch Menschen betreffen, die nicht Teil davon sind. Nirgendwo wird dies offenkundiger als im Asylrecht, dessen systematische Untergrabung an Europas Außengrenzen wohl auch deshalb keinen Aufschrei hervorruft, weil es das Wahlvolk innerhalb der Grenzen nicht zu betreffen scheint.

Denn dass Schutzsuchende abgewiesen werden, macht uns vielleicht aus humanitären Gründen betroffen, bedrohen tut es uns und unsere Demokratie aber – vermeintlich – nicht. Versichern uns doch regelmäßige freie Wahlen, dass wir Souverän sind und die Kontrolle über die Regierenden haben. Unabhängige Gerichte bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte stehen für die Einhaltung ebendieser und ahnden ihre Verletzung ohne Ausnahme. Ein engmaschiges Sozialsystem und institutionelle Solidarität sorgen für die Sicherstellung unserer Grundbedürfnisse, vom Wohnen bis hin zu Gesundheits- und Altersvorsorge.

Kanarienvogel in der Mine

Die Demokratie ist für uns eine gut geölte Maschine, die zwar manchmal Ermüdungserscheinungen zeigt – die WKStA kann ein Lied davon singen –, aber im Kern das aufrechterhält, was uns versprochen wurde: dass wir in Würde und Gleichheit geboren und unsere Grundrechte unveräußerlich und unantastbar sind. Mag die Unzufriedenheit mit den Regierenden noch so groß sein, insgeheim lässt uns eine essenzielle Überzeugung doch Nacht für Nacht gut schlafen: dass uns Europäerinnen das, was in Moria, in Belarus, in Bosnien oder im Mittelmeer geschieht, nämlich eine wissentlich und willentlich herbeigeführte Rechtlosigkeit, nicht passieren kann.

Das ist leider wenig mehr als eine tröstliche Chimäre. Grundrechte kann man nicht einfach für die einen abstellen, während sie für die anderen weiter gelten. Sie sind, wie es die Ikone der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, Maya Angelou, formulierte, wie Luft: Entweder alle haben sie oder niemand hat sie. Flüchtlinge und Minderheiten erfüllen deshalb in westlichen Demokratien die Funktion eines Kanarienvogels in der Kohlemine, der Bergleute vor einem drohenden Absinken des Sauerstoffgehalts warnt: Bleibt ihnen die Luft weg, weil man ihnen Grund- und Menschenrechte verwehrt, so wird es auch für uns bald brenzlig werden.

Fragile Solidarität

Man muss weder tief in die Geschichte zurückgehen noch weite Distanzen überbrücken, um die Beschneidung der Rechte von Marginalisierten und Ausgegrenzten, den geknechteten Massen, die frei zu atmen begehren, wie es am Sockel der Freiheitsstatue zu lesen ist, als Einfallstor für illegitime Tendenzen und Verletzungen der Grund- und Freiheitsrechte zu erkennen. Nicht von ungefähr werden die Rechte von Asylsuchenden an den Grenzen Polens und Ungarns mit Füßen getreten, also genau dort, wo die Rechtsstaatlichkeit manchmal nur wie eine vage Empfehlung statt wie ein grundlegendes demokratisches Prinzip wirkt. Bezeichnend, dass ausgerechnet "Pushback", also das völkerrechtswidrige Zurückweisen von Schutzsuchenden an der Grenze, häufig durch Einsatz von Gewalt, zum deutschen Unwort des Jahres 2021 gewählt wurde.

Nicht erst seit dem Fluchtherbst 2015 ist der Umgang mit Schutzsuchenden der Lackmustest für die europäische Demokratie – bei dem wir manchmal einfach durchfallen. Andere Male scheinen wir ihn bravourös zu meistern, etwa jetzt, da Millionen Flüchtlinge aus der Ukraine in der EU Schutz suchen und diesen unbürokratisch erhalten. Vielleicht aber auch nur, weil es sich bei Ankommenden aus der Ukraine nicht um "klassische" Flüchtlinge handelt, wie betont wird, sondern um "Vertriebene". Die differenzierte Form der Solidarität, die dadurch Einzug hielt, etwa zwischen ukrainischen Staatsbürgerinnen und nicht-ukrainischen Drittstaatsangehörigen zu unterscheiden, ist eine höchst fragile. Steht doch eine Aufnahmebereitschaft, die auf dem Geschlecht, der Kultur oder der Hautfarbe der Schutzsuchenden basiert, auf tönernen Füßen.

"Schutzsuchende sind die Gradmesser für die Robustheit unserer Demokratie und unserer Rechtsstaatlichkeit."

Aber vielleicht lässt der paradoxe Umgang mit ukrainischen Flüchtlingen ein Quantum Zweckoptimismus zu. Denn möglicherweise steht hinter den verblüfften Kommentaren, die nun Flüchtenden sähen aus "wie wir", hinter der (Über-)Betonung ihrer geografischen und kulturellen Nähe, hinter den wortreichen Bekundungen unserer unmittelbaren Betroffenheit und historischen Verbundenheit, die unheimliche Erkenntnis, dass uns die Idee des internationalen Schutzes doch etwas angeht. Dass Schutzsuchende tatsächlich die Gradmesser für die Robustheit unserer Demokratie und unserer Rechtsstaatlichkeit sind.

Denn würden Wladimir Putins Bomben nur einige Kilometer weiter westlich fallen, wären wir diejenigen, die darauf hoffen müssten, dass uns nicht die Luft wegbleibt wie den Tausenden, die im Mittelmeer ertrunken oder in Sumpfgebiet vor Polen erfroren sind. Wer rechtsstaatliche Prinzipien als Fundament demokratischer Institutionen bewahren will, darf auch und gerade Flüchtlingsrechte nicht opfern. "Alle oder niemand" bedeutet nämlich genau das. (Judith Kohlenberger, 8.5.2022)