Der Verweis auf eine verflossen Stalin-Diktatur als Hinweis auf heutige Quellen der Aggression.

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Eine "Fidelio"-Vorstellung im Thüringischen Meiningen ist eigentlich nichts besonderes. Politisch ist das allemal. Schon, weil Beethovens einzige Oper nicht nur ein Singspiel und ein Hochamt auf die Gattenliebe ist, sondern auch eine Befreiungsoper. Hier haben die Opfer den stärksten Auftritt und der prominenteste Gefangene wird erst in letzter Sekunde davor gerettet, gemeuchelt zu werden. Beethoven konnte das 1805 mit einer jubelnden Utopie enden lassen.

Dieser in Meiningen nur einmal aufgeführte "Fidelio" ist allerdings ein Politikum der besonderen Art. Schon die Tatsache, dass er überhaupt über die Bühne ging ist ein Wunder. Es ist nämlich eine Inszenierung, die am 12. Februar – also 12 Tage vor der "Zeitenwende" – in Maslakovs "Freien Modern Musik Theatre Kiev" ihre Premiere hatte.

Russischer Angriff

Es war überhaupt die erste "Fidelio"- Produktion in der Ukraine – so berichtet ihr Regisseur, der Bassbariton Andrey Maslakov, jetzt in Meiningen beim Pressegespräch. Gesungen wurde auch in Kiew auf deutsch. Um sein Publikum mit dem Stück bekannt zu machen, habe er selbst die gesprochenen Dialoge neu und auf ukrainisch geschrieben. Der russische Angriff machte die geplanten Folgevorstellungen unmöglich.

Dass die zweite Vorstellung jetzt in Meiningen über die Bühne ging, grenzt an ein Wunder! So richtig daran geglaubt, dass sie diesen Husarenstreich hinbekommen, haben weder der Meininger Intendant Jens Neuendorff von Enzberg, der die Kiewer einlud, noch Andrey Maslakov der die Einladung in den Westen annahm. Aber: Kunst kommt halt auch in Ausnahmesituationen von Können. Der Intendant in Meiningen (von dem man sagt: ein Theater mit Stadt und nicht umgekehrt) machte mit zupackendem Pragmatismus den Platz in seinem Spielplan für die Proben und die Vorstellung frei.

Ensemble aus Ukraine

Die Hofkapelle demonstrierte, was ein Traditionsorchester drauf hat, wenn es will. Die notwendige Chorverstärkung kam aus dem benachbarten Coburg. Die größte Hürde war aber, die Kulissen und Kostüme, vor allem aber die Männer des Protagonisten-Ensembles aus der Ukraine herauszubekommen. Auch über ihnen schwebt ja die von der Regierung verhängte Wehrpflicht für alle Männer zwischen 18 und 60 Jahren.

Das Visum, das sie jetzt nach vielen Klimmzügen und am Ende durch die Zustimmung des Kiewer Kulturministers bekamen, gilt bis Ende Mai. Wer danach zurückfährt, riskiert einen Einberufungsbefehl. Eine Vorstellung, die bei jedem Auftritt von Vitalii Ivanov (Jaquino), Oleksandr Kharlmov (Rocco), Serhii Androshchuk (Florestan), Dmytro Kyrychek (Pizarro) und Jevgen Malofeiev (Don Fernando) unwillkürlich mitschwingt. Und man wünscht allen, dass die geplanten Gastspiel-Auftritte in Coburg, Heidelberg und Siegen zustande kommen, und sich andere Theater genauso flexibel und solidarisch zeigen wie jetzt Meiningen.

Selbst verstaut

Als Maslakov, der nicht nur die Regie, sondern auch das Bühnenbild verantwortet, davon berichtet, wie er selbst alles auf den Zentimeter genau und jeden Winkel ausnutztend am Ende in einen mittelgroßen Transporter verstaut hat, und was alles nötig war, um auf dem Weg aus Kiew über Rumänien und Ungarn nach Thüringen, die orthodoxe Osterpause, vor allem diverse Grenzen zu überwinden, dann ist das ein Abenteuer, über das man nur staunen kann, dass es geklappt hat. Inklusive der unumgänglichen Barbezahlung per Vorkasse an die Fahrer und mit Beweisfoto vor einem wiedererkennbaren Gebäude in Ungarn…..

Dieser besondere, natürlich emotional aufgeladene Abend in Meinigen demonstrierte Verbundenheit mit den Überfallenen, die über eine angestrahlte Fassade, gehisste ukrainische Flaggen oder das Abspielen der Hymne hinausgeht und die Kunst selbst zu Worte kommen lässt. Ein musikalisches Statement war die Arbeitsteilung der Dirigenten: bis zur Pause stand Segii Golubnychyi am Pult der Hofkapelle, danach übernahm GMD Philippe Bach.

Eine Geste der Gäste

Es war wohl eine Geste der Gäste an die Gastgeber, dass sie auch die daheim Ukrainisch gesprochenen Texte in Meiningen in Deutsch einstudierten. Was immer dann, wenn sich der Abend in Singspielregionen bewegte, besonders bei der ohnehin sympathischen Marzelline Olga Fomichova, Charme hatte. Es erzwang aber auch bei Florestans Satz, dass das Leben das wichtigste sei, was er habe und dass es vor allem auch um Vergebung gehe, zum genauen Hinhören und Weiterdenken.

Wie überhaupt die "Zeitenwende" die vor allem auf Verständlichkeit abzielenden klare Bildsprache ins Prophetische veränderte. So wird hinter dem Gefangenenchor Stalins Porträt gehisst (den man sich unwillkürlich als Putin denkt) und auf seinen Geburtstag angestoßen – aber auch mal eben ein halbes Dutzend Gefangene erschossen.

Florestans Gefängnis ist dann eine Jauchegrube, und der "Genosse" Pizarro wird unter dem Jubel der jetzt in Alltagszivil "befreiten" Massen gehängt. Am Ende ist es ausgerechnet Leonore (Yuliia Alieksieieva), die mit einer Gewehrsalve den Chor und damit jede Hoffnung niederschießt. (Joachim Lange, 8.5.2021)