Der Ethnofolksänger Gustav (Lindy Larsson) in Yael Ronens "Slippery Slope" am Gorki-Theater Berlin muss noch viel dazulernen.

Ute Langkafel

Was hat das Theater in einer Gegenwart profunder Krisen noch zu melden? Während ein Krieg sich ausbreitet, die Klimakatastrophe vor der Tür steht, die Folgen der Pandemie nachwirken? Es kann nur eines: sich weiter behaupten. Als eine Kunstform, die selbst Krisen erprobt, die Streitkultur abbildet, die aber auch besänftigt und tröstet. Dafür ruft das Berliner Theatertreffen alljährlich im Mai die Top Ten des deutschsprachigen Theaters zusammen.

Das Festival ist ein Gradmesser für den State of the Art der darstellenden Künste, aber auch ein Kongress für gesellschaftspolitische Fragestellungen. Am Freitag wurde es mit Christopher Rüpings Inszenierung Das neue Leben eröffnet – und Trost ist hier das Schlagwort. Welterklärstücke sind derzeit out.

Low-tech-Musical

Rüping, seit 2015 schon fünf Mal für die Hitliste auserkoren, hat sich mit Dantes mittelalterlicher Minneliteratur Vita nuova befasst, einer überbordenden Liebeslyrik und -prosa des Dichters für eine Frau namens Beatrice. Diese erfährt von der Zuneigung zu Lebzeiten aber nüscht. Er kriegt es einfach nie raus. Na ja, sagt Beatrice (Viviane De Muynck) viele Jahre später im Jenseits, im Leben könne halt nicht alles stattfinden, was man erhofft. So simpel. Es gibt viel zu bedauern. Es passiert jeden Tag. Das ist normal. Die Darstellerinnen und Darsteller überschneiden in radebrechenden Interpretationen Popsongs von Britney Spears oder Meat Loaf mit Dantes Sentiment anno 1293.

In Das neue Leben steckt viel vom Gefühl der Ratlosigkeit und vom Unvermögen unserer Zeit. Nicht zuletzt handelt der Text vom Aufeinander-zugehen-Wollen, aber nicht -Können und gibt sich darin so wenig auftrumpfend wie selten. Er zeigt auch, dass sich das Theater derzeit, nach Monaten der Schließungen und unsicheren Spielpläne, der Umtosung durch Krisen, inhaltlich wie ästhetisch mal kurz sammeln muss. Die berühmte Zehnerauswahl wäre aber nicht die Zehnerauswahl, wenn sie in ihrer Disparatheit nicht auch die nachhängenden Diskurse abbilden würde. In Slippery Slope von Yael Ronen geht es um Cultural Appropriation. In einer Art Low-tech-Musical macht ein Ethnofolkmusiker am laufenden Band Geschäfte mit kultureller Aneignung, bis ihm eine Romasängerin das Handwerk legt.

Klassismus

Ein am Theater unterrepräsentiertes Thema rückt Ein Mann seiner Klasse in den Fokus: Klassismus. Lukas Holzhausen inszeniert eine Bühnenfassung von Christian Barons gleichnamigem Buch, in dem dieser seine eigene, von häuslicher Gewalt und Armut geprägte Kindheit im Kaiserslautern der 1990er beschreibt. Dem Vater, einem Möbelpacker, gelingt der Aufstieg aus dem Unterschichtteufelskreis nicht, er trinkt und wird gewalttätig, ist momenthaft aber auch liebevoll. Verkörpert wird er als stumme Rolle von einem echten Möbelpacker, der unter den Spielern unbeirrt ein Haus zusammenzimmert.

Der Abend macht ein unterprivilegiertes Heranwachsen kenntlich, andererseits reproduziert er auch entsprechende Stereotype. Dieser Konflikt stand auch auf Panels zur Diskussion. Was kann auf der Bühne wie gezeigt werden, ohne dabei das zu Kritisierende nicht selbst zu reproduzieren? Was fangen wir mit dem Kanon an, dessen Dramen sehr oft auf patriarchalen, sexistischen, kolonialen Mustern fußen?

Einer der spannendsten Beiträge dazu kam von Autor Necati Öziri, dessen Ring des Nibelungen übrigens bald bei den Wiener Festwochen gastiert. Öziri bezweifelt, dass die Idee von Kunst als Spiegel der Gesellschaft genügt. Ein Spiegel sei kein Garant für Reflexion, er dient auch der Affirmation. Insofern plädiert er für einen radikalen Bruch mit dem Kanon, für mehr als nur das Überschreiben alter Stücke, für die "Korrektur" derselben, also Stücke völlig neu aufzusetzen.

Vierzig Prozent weniger

Der Auftakt des Theatergipfeltreffens war sehr gut besucht, dennoch beschäftigt alle der postpandemische Publikumsschwund. Bis zu vierzig Prozent weniger sind es derzeit in Deutschland. In Österreich konnte dieser Trend weitgehend abgefangen werden, wie Martin Kušej unlängst zuversichtlich feststellte. Doch wird sich das Theater – noch intensiver als in den vergangenen Jahren – nun damit beschäftigen müssen, wen es künftig adressieren möchte und wie es diese Gemeinten erreichen kann. (Margarete Affenzeller aus Berlin, 10.5.2022)