Seit Ausbruch der Corona-Krise sind die Schuldenstände der meisten EU-Staaten sprunghaft nach oben geschnellt.

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Seit mehr als zwei Jahren liegen sie bereits auf Eis – und es dürfte ein weiteres dazukommen. Zunächst wurden die Schuldenregeln der EU im Jahr 2020 ausgesetzt, damit sich die Staaten der Union ohne finanzielles Korsett gegen die Auswirkungen der Corona-Krise stemmen konnten. Die ist zwar nun im Abklingen, dafür stellt der Ukraine-Krieg die Welt ein weiteres Mal auf den Kopf. Daher erwägt die EU-Kommission, den Stabilitäts- und Wachstumspakt auch im Jahr 2023 auszusetzen.

Das für nächstes Jahr vorgesehene Wiederinkrafttreten müsse wegen der Unsicherheiten im Zuge des Ukraine-Kriegs neu bewertet werden, sagte EU-Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni. Die Kommission empfiehlt derzeit, dass die Staatshaushalte für 2023 die individuellen Umstände der EU-Länder widerspiegeln sollen, Details sollen bald folgen. Etliche Beobachter rechnen freilich damit, dass die EU-Schuldenregeln ein weiteres Jahr ausgesetzt bleiben und erst 2024 wieder in Kraft treten werden – und das in deutlich veränderter Form.

Aus der Zeit gefallen

Denn der Stabilitäts- und Wachstumspakt wirkt derzeit, als wäre er aus der Zeit gefallen. Darin ist nicht nur eine maximale jährliche Neuverschuldung von drei Prozent vorgesehen, sondern auch ein Höchstschuldenstand von 60 Prozent der Wirtschaftsleistung. Allein, laut eine Prognose der EU-Kommission werden heuer 14 Mitgliedsstaaten eine höhere Schuldenquote aufweisen – zumal der Ukraine-Krieg auch das Wirtschaftswachstum deutlich einbremsen wird.

In der Eurozone liegt die durchschnittliche Verschuldung bereits bei fast 100 Prozent der Wirtschaftsleistung, bei manchen wie Italien sogar deutlich darüber. Damit ist die Schuldenobergrenze de facto obsolet – sie zu erfüllen, wäre nur durch extrem schmerzhafte Sparmaßnahmen erreichbar. Daher lehnen es viele Ökonomen ab, einfach die alten Schuldenregeln wieder in Kraft zu setzen.

Viele Ausnahmen

Wie eine Reform aussehen könnte, ist derzeit noch offen. Zur Diskussion steht etwa, Investitionen in Digitalisierung und grüne Technologien, etwa zur Energiewende, von den EU-Schuldenregeln auszuklammern. Auch Verteidigungsausgaben könnten künftig nicht mehr darunterfallen. "Ich bin aber offen dafür, darüber nachzudenken, auch Investitionen in Europas Autonomie bei den Schuldenregeln besonders zu berücksichtigen", sagte Wirtschaftskommissar Gentiloni. Darunter könne man auch bestimmte Verteidigungsausgaben fassen.

"Dies ist der Moment, in dem Europa eine gemeinsame Verteidigungs- und Energiepolitik erarbeiten muss", erklärte Gentiloni. Es dürfe jedoch nicht der Eindruck entstehen, eine Art "Weihnachtsbaum" zu erschaffen, bei dem sich jeder Staat Ausnahmen wünschen könne. (Alexander Hahn, 12.5.2022)