Imran Sheik, Gerd Sievers und Michael Stefanofsky (von links) machen am Vorgartenmarkt einen durchgeknallten Schnellimbiss.

Foto: Gerhard Wasserbauer

Man darf sich nicht daran stoßen, dass am Nebentisch zwei Illuminierte in ihre Krügel stieren, während man am Froschschenkel nagt: Wahre Dekadenz gibt es in Wien nur an argen Orten. Hier ist so einer.

Eigentlich sind es sogar zwei. Einerseits die Palette, so heißt das stets mit Jalousien verhangene Standl des Kochs und Publizisten Gerd Sievers. Gemeinsam mit Sous-Chef Imran Sheik, einem fertig studierten Ökonomen, kocht er hier nach Ryōtei-Manier ausschließlich für Stammgäste und von diesen empfohlene Kundschaft: große Carte-Blanche-Dîners mit allem, was gut ist, von Gott längst verboten wurde und in unseren Breiten nur dank der manisch anmutenden Expertise und Nachdrücklichkeit von Sievers zu haben ist.

Bretonische Seeigel

Völlig irre Sachen sind da dabei, Sashimi vom isländischen Wildlachs etwa, der 28 Tage im Tuch trocken reift, oder unter der Haut mit Foie gras gefülltes und gebackenes Stubenküken, aber auch Kaisergranate aus der Bretagne in teutonischer Unterarmlänge. Kompromissbefreite Gourmets kehren hier ein, dem Vernehmen nach auch Oligarchen mit mehr oder weniger ehemaligen Politikern.

Eine David-Hervé-Auster, japanoid mariniert.
Foto: Gerhard Wasserbauer

Der andere Ort ist der Schnellimbiss vis-à-vis, den der Werber, Wild-Einrexer und gelegentliche Gastronom Michael Stefanofsky vor ein paar Monaten von Sievers übernommen hat, unter der Voraussetzung, ihn gemeinsam mit Sievers zu betreiben. Stefanofsky war die Aussicht auf die Partnerschaft mit so einem akribischen Delikatessenjäger und Koch wohl sehr verlockend: Jetzt hat er eine Adresse für bretonische Seeigel und fünf Jahre gereiften baskischen Schinken ebenso wie einen mehr als bemerkenswerten Weinkeller.

Das gibt es hier alles wirklich, und viel mehr noch dazu. Die zur Auswahl stehenden Edelproteine (Gemüse haben sie eher pro forma) lassen sich unmöglich alle in einer Session durchkosten – roh marinierte Sardinen, handgeschnittenes Tartare oder Gambas al ajillo etwa müssen aufs nächste Mal warten.

Eine David-Hervé-Auster, japanoid mariniert (siehe Bild), ist der Weckruf für die nun stark geforderten Sinne. Burgunderschnecken lässt Sievers tatsächlich aus den Weinbergen der Bourgogne herholen ("fürs Aroma entscheidend"), sie werden mit jener Butter gratiniert, die sich Frankreichs ewiger Küchengott Antonin Carême als Koch Talleyrands am Wiener Kongress für dessen Dîner mit dem russischen Zaren einfallen ließ: anständig knofelig, weltläufig wienerisch.

Foto: Gerhard Wasserbauer

Krebs, cremig

Carpaccio von der Meeräsche, kühle Scheiben wächsern schmelzenden Fleisches, werden mit nichts als ein paar Granatapfelkernen und gerösteten Pignoli akzentuiert – makellos. Moleche, die Weichschalenkrebse aus der venezianischen Lagune, sind so frittiert, dass sie außen gerade knusprig, innen aber wild cremig bleiben dürfen.

Ein paar schmale Serpentinen scharfer Mayo drüber, fertig – umwerfend gut. Froschschenkel lässt Sievers in albanischen Fluss-Auen angeln. Wer wissen will, wie Dekadenz schmeckt, ohne sich selbst an ihr zu vergehen: zart kräuterig, saftig unter der knusprigen Panier, willig vom winzigen Knochen fallend – aber zu sehr an Hendl erinnernd, als dass es den Gewissensdruck wert wäre.

Foto: Gerhard Wasserbauer

Für Andouillette à la ficelle hingegen, die große französische Darm- und Kuttelwurst, gebraten mit knusprig confiertem Knoblauch und Rosmarin, lohnt die Reise ins Arge eindeutig: eine Wurst wie ein Monument, von vielschichtiger Aromatik und Saftigkeit, aus der Tiefe schöpfend, mit langem, außerordentlich köstlichem Nachhall. So geht es dahin, bis irgendwann die Cotoletta milanese auf dem Tisch steht: Schnitzel von der anderen Art, am Knochen, knusprig, saftig und bar jeder Beilage. Erst danach sollte man an den langen Weg zurück denken. Wobei – ohne Kalbshirn gebacken, mit Sardellen-Remoulade, darf man eigentlich nicht gehen! (Severin Corti, RONDO, 3.6.2022)

Foto: Gerhard Wasserbauer

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