Anlass für Beschwerde gegen Politeinfluss im ORF: der Anfang Mai frisch bestellte Publikumsrat bei seiner Konstituierung.

Foto: ORF / Thomas Ramstorfer

Wien – Die Medienbehörde KommAustria kann sich auf die nächste Beschwerde einstellen, die Medienministerin Susanne Raab (ÖVP) und auch gleich Publikumsrat und Stiftungsrat die Verletzung des ORF-Gesetzes vorwirft. Diese Beschwerde moniert Verstöße gegen die Bestellung von Stiftungsräten, gegen Unvereinbarkeiten bei dessen Besetzung und gegen die Weisungsfreiheit – wegen der Regierungs-Sideletter.

Popularbeschwerde sucht Unterstützer

Der Presseclub Concordia und der für die Journalistinnenorganisation tätige Jurist Walter Strobl organisieren die Beschwerde, Strobl hat sie ausgearbeitet. Freitag gingen sie mit dem Aufruf zur Unterschrift an die Öffentlichkeit.

Für eine sogenannte "Popularbeschwerde" bei der Medienbehörde braucht es 120 Unterschriften von Menschen, die GIS zahlen, die von der GIS befreit sind oder in einem Haushalt mit einer Person, auf die das zutrifft, leben.

Die Beschwerde soll kommenden Mittwoch eingebracht werden, um die gesetzlichen Fristen dafür einzuhalten – vorgesehen sechs Wochen nach den relevanten Ereignissen. Und davon listet die Beschwerde eine Reihe auf, die aus der Sicht der Betreiber gegen das ORF-Gesetz verstoßen.

"Strukturelle Einfallspforte für Politeinfluss"

Das Bundesverfassungsgesetz Rundfunk und die Menschenrechtskonvention schrieben dem ORF (und der mit dem ORF befassten Politik) "mit klaren verfassungsrechtlichen Vorgaben" Unabhängigkeit gegenüber staatlichem Einfluss vor, erinnert Strobl.

Doch das ORF-Gesetz werde diesen Vorgaben nicht gerecht, vor allem bei den Aufsichtsgremien Stiftungsrat und Publikumsrat. Ihre Mitglieder wären "nicht ausreichend staatsfern". Das sei "eine strukturelle Einfallspforte für politischen Einfluss".

Die Angriffsziele der ORF-Beschwerde

Die Beschwerde hat denselben Anlass wie eine Beschwerde der Universitätenkonferenz gegen die Bestellung des Publikumsrats durch Medienministerin Susanne Raab im Frühjahr – doch sie geht deutlich über diese hinaus und greift auch die Besetzung des Stiftungsrats und die Bestellung seines Vorsitzenden auf sowie die Sideletter der Regierung von ÖVP und Grünen darüber.

Die Angriffsziele der Beschwerde im Überblick:

Publikumsrat Medienministerin Raab habe bei der Bestellung von Publikumsräten das ORF-Gesetz verletzt. Denn: Einige dieser Publikumsräte hätten Organisationen vorgeschlagen, die für den jeweiligen Gesellschaftsbereich – etwa Hochschulen oder Konsumenten – nicht repräsentativ sei, wie das Gesetz verlange. Zudem kamen sie von Einzel- und nicht Dreiervorschlägen, die das Gesetz vorsehe.

Stiftungsräte Der Publikumsrat habe auch solche "in gesetzwidriger Weise bestellte" Mitglieder in den ORF-Stiftungsrat entsandt. Der Publikumsrat hat sechs Mandate im eigentlich entscheidenden Stiftungsrat.

Stiftungsratsvorsitz Diese – aus der Sicht der Beschwerde – vom Publikumsrat "gesetzwidrig bestellten" Stiftungsräte hätten wiederum an der Wahl des Vorsitzenden des Stiftungsrats teilgenommen. Der Stiftungsrat bestellte vor zwei Wochen Lothar Lockl (Grüne) zum Vorsitzenden und (neuerlich) Franz Medwenitsch (ÖVP) zum stellvertretenden Vorsitzenden.

Unvereinbarkeiten Die Beschwerde sieht aber auch andere Gesetzesverstöße bei der Bestellung von Stiftungsräten. Unter ihnen seien Medienunternehmer und "politische Berater", was den Ausschlussbestimmungen des ORF-Gesetzes nach Ansicht von Concordia und Strobl widerspreche. Auch ihre Teilnahme an der Wahl des Vorsitzenden monieren die Betreiber der Beschwerde.

Sideletter und die Weisungsfreiheit Die – seit Februar bekannten, bis dahin geheim gehaltenen – Vereinbarungen der Regierung von ÖVP und Grünen über Besetzungen im ORF von Publikums- und Stiftungsrat bis zur ORF-Geschäftsführung (mehr im Info-Feld unten) – verletzten die Weisungsfreiheit.

Zielrichtung: Höchstgericht

Die Beschwerde von Concordia und Jurist Strobl ist, soweit erkennbar, nicht allein auf die Medienbehörde KommAustria als erste Instanz angelegt. Sie könnte in weiterer Folge auch Höchstgerichte beschäftigen.

Zuletzt griff ORF-Moderator Armin Wolf mit einem Blogeintrag ein Zitat des heutigen Verfassungsgerichtshofpräsidenten Christoph Grabenwarter auf. Er schloss aus einem Fachbeitrag über das deutsche Rundfunkrecht und die Staatsferne dort und aus einem Zitat im Zusammenhang mit dem moldauischen Rundfunk, dass der ORF-Stiftungsrat in heutiger Zusammensetzung der Menschenrechtskonvention widerspreche und damit verfassungswidrig sei.

Der Verfassungsdienst des Bundeskanzleramts widersprach der Interpretation. Grabenwarter erklärte später im ORF-Interview, man könne Moldaus Rundfunk "nicht eins zu eins" mit dem ORF-Stiftungsrat vergleichen.

Auf eine Bewertung des ORF-Stiftungsrats und seiner Verfassungsmäßigkeit wollte sich Grabenwarter in diesem Interview aber nicht einlassen – es könne ja sein, dass sich der Verfassungsgerichtshof mit dem Thema wieder beschäftigen müsse.

Die Concordia-Beschwerde könnte dafür einen Anlass bieten. (fid, 3.6.2022)