Mit großer Hilfsbereitschaft begann es: Ankunft von Ukraine-Vertriebenen am Wiener Hauptbahnhof im März.

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Als Russland die Ukraine angriff und eine Fluchtbewegung ungeahnten Ausmaßes Richtung Westen auslöste, hieß man die Vertriebenen auch in Österreich willkommen. Nun, mehr als hundert Tage später, ist dieser Umgang in eine riskante Phase eingetreten.

Ein Zeichen für das partielle Erodieren von Toleranz sind Reaktionen auf ein Video in sozialen Medien, das einen unter Schlägen zu Boden gehenden Wiener Taxler und ein davonbrausendes Auto mit mutmaßlichen ukrainischen Schlägern zeigt. Die "wehrtüchtigen" Ukrainer sollten besser daheim gegen die Russen kämpfen, tönte es aus der FPÖ, viele Poster stimmten mit ein.

Dass die Aufnahme laut Polizei aus dem Zusammenhang gerissen war, der Streit um einen Parkplatz mit der Schlagstockattacke eines Taxlers auf einen Ukrainer begonnen hatte, macht die gallige Stimmung nicht ungeschehen.

Auch innerhalb der Koalition gärt es: ÖVP-Generalsekretärin Laura Sachslehner sprach mit Blick auf Flüchtlinge abseits der Ukraine davon, dass Österreich unter Asylanträgen "leide". Die Grünen qualifizierten das als "rassistische Polemik".

Staatliche Scheinkommunikation

Ukrainer sollten jedenfalls "weiter uneingeschränkt Hilfe" erhalten, meinte Sachslehner. Doch diese Hilfe funktioniert nicht gut: Auch über drei Monate nach der Aktivierung der Massenzustromrichtlinie, die Ukraine-Vertriebenen EU-weit temporären Schutz mit Jobzugang gewährt, ist man nicht imstande, basale Verbesserungen für die vielen Frauen mit Kindern und wenigen Männer umzusetzen. Verkündet, so als wären sie fix beschlossen, wurden Erleichterungen seither gleich mehrfach, doch geschehen ist im Ergebnis null – eine bald ans Absurde grenzende Scheinkommunikation.

Konkret wurden weder die Tagsätze für Betreiber organisierter Grundversorgungseinrichtungen noch die monatlichen Zuwendungen für privat wohnende Ukraine-Flüchtlinge erhöht.

Auch die skandalös niedrige Zuverdienstgrenze von 110 Euro monatlich, deren Überschreiten den Verlust von Unterkunft und Zuwendungen zur Folge hat, gilt nach wie vor. Sie erschwert den Vertriebenen das Annehmen von Jobs in hohem Maß. Hinzu kommt ein Schneckentempo bei der E-Card-Ausstellung und dem Gewähren von Arbeitsbewilligungen an potenzielle Brötchengeber.

Ukrainerinnnen in Not

Die Folge ist, dass immer mehr Ukrainerinnen in Not geraten. Eine Gruppe um die in Wien lebende US-Amerikanerin Tanja Maier, die aus Spendengeldern Gutscheine für Lebensmittelkäufe finanziert, hat bereits tausende Hofer-Cards à 50 Euro verteilt, die bitter benötigt werden.

Viele Vertriebene sehen in Österreich keine Perspektive, manche äußern ihren Ärger. Sie können sich das eher leisten als Asylwerberinnen, die der unzureichenden Grundversorgung im laufenden Asylverfahren und mangels Arbeitsmarktzugang voll ausgeliefert sind.

Rasche Verbesserungen nötig

Der Stimmung gegenüber den ukrainischen Vertriebenen ist all das höchst abträglich. Gelingt es Bund, Ländern und Gemeinden, Sozialversicherungen und Arbeitsmarktservice jetzt nicht rasch, die fortgesetzte Mangelverwaltung zu beenden – den Ukraine-Vertriebenen also sinnvolle Hilfe zur Selbsthilfe zu gewähren –, droht ein Ende der Willkommenskultur.

Nichts nämlich wirkt auf die Aufnahmebereitschaft einer Gesellschaft tödlicher als der Eindruck, Flüchtlinge würden das, was man ihnen bietet, nicht schätzen. Das sollten wir aus der Zeit der großen Fluchtbewegung 2015/16 gelernt haben. (Irene Brickner, 6.6.2022)