Ein halbes Jahr ist Karl Nehammer als Bundeskanzler im Amt, eine Bilanz seines politischen Wirkens fällt durchwachsen aus. Was ihm anzurechnen ist: Nehammer hat wieder mehr Ruhe in die Politik gebracht, die Dauererregung der Ära Kurz wurde spürbar heruntergefahren. Nehammer setzt weniger auf die Wirkung der Inszenierung. Es geht wieder mehr um die Sache und weniger um die Darstellung. Das bringt eine Spur mehr Unmittelbarkeit und Ehrlichkeit in das politische Geschehen.

Dem kann man natürlich die Reise nach Moskau entgegenhalten. Die Wichtigmacherei mit Russlands Präsident Wladimir Putin ist reiner Selbstzweck, das dient der Sache nicht. Dazu ist Österreich zu unwichtig und darüber hinaus zu sehr Partei, als dass Nehammer ernsthaft zu einer tragenden Rolle als Vermittler oder Verhandler kommen könnte. Die Peinlichkeit, mit der sich Nehammer dem Weltgeschehen andient, ist spürbar, der Schmerz darüber hält sich in Grenzen. Ja, das war die Idee seiner Frau. Das soll in den besten Familien vorkommen. Es wäre allerdings zutiefst österreichisch, wenn Nehammer über Cobra-Gate stolpern würde, was ihm ebenfalls seine Frau eingebrockt hat: Feucht-fröhliches Feiern mit verhaberten Beamten samt schiefem Vertuschungsversuch, das muss einem erst einmal passieren.

Ein halbes Jahr ist Karl Nehammer nun im Amt.
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Ernster stellt sich die allgemeine politische Lage dar: Nehammer ist ein Getriebener. Die Teuerung hat in Zusammenhang mit den beunruhigenden Nachrichten aus der Ukraine zu einer tiefen Verunsicherung der Bevölkerung geführt. Die Politik hat darauf noch nicht die richtigen Antworten gefunden. Nehammer wirkt nachhaltig ratlos. Da hilft ihm auch die Partei nicht, im Gegenteil: Die ÖVP, deren Chef er mit unredlich herbeigeführten und also nicht ehrenhaften 100 Prozent wurde, hat er nicht im Griff, eher umgekehrt. Dass Nehammer die Kraft aufbringen wird, die Partei zu reformieren, was sie dringend notwendig hätte, erscheint aus heutiger Sicht unwahrscheinlich.

Moralische Ansprüche

Eine Falle, in die auch Nehammer getappt ist – und was nahezu unverzeihlich ist: das Unvermögen, Fehler einzugestehen, und die Arroganz, mit der Politiker glauben, über alles hinwegturnen zu können und sich für nichts entschuldigen zu müssen. Die ÖVP hat in jüngster Zeit mehrfach bewiesen, dass sie finanziell der Verlotterung zuneigt. Die Selbstverständlichkeit, mit der sich die Partei aus Geldern finanziert, die ihr nicht zustehen, lässt darauf schließen, dass sie ihre moralischen Ansprüche auf ein Minimum heruntergeschraubt hat.

Nähme Nehammer seine Rolle als Kanzler und Parteichef halbwegs ernst, würde er dieser unredlichen Raffgier einen Riegel vorschieben, sich entschuldigen und Besserung geloben. Er müsste eine Strukturreform angehen, die Staats-, Landes- und Parteistrukturen entflicht und sicherstellt, dass von der Macht berauschte und von den Möglichkeiten verführte Parteifunktionäre keine wirtschaftlichen Vorteile aus ihrer Rolle als Politiker generieren.

Stattdessen wiegelt Nehammer ab und redet schön, was hässlich ist. Wenn Nehammer der Politik ihre Glaubwürdigkeit zurückgeben will, muss er zu den Fehlern stehen und sie benennen. Das ewige Herumlavieren haben die Menschen satt. Dem politischen Ganoventum, das mit halbseidenen Ausreden kommt und sich um alles herumschwindelt, ist keine lange Haltbarkeit bestimmt. Hoffentlich. (Michael Völker, 7.6.2022)