Paul Grod, Präsident des Weltkongresses der Ukrainer, schreibt in seinem Gastkommentar über die Zukunft des Landes und die Frage, wie ein Wiederaufbau gelingen könnte.

In der Ukraine wird seit mehr als 100 Tagen intensiv gekämpft. Solange noch russische Bomben auf unschuldige Zivilisten regnen, scheint der Gedanke an den Wiederaufbau des Landes weit weg zu sein. Aber gerade in Krisen- und Katastrophenzeiten müssen wir an die Zukunft denken. Vor allem die führenden Kräfte des Westens müssen den Wiederaufbau des Landes in einer zentralen Rolle unterstützen.

Hofft auf weitere Hilfe des Westens: der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj.
Foto: IMAGO/ZUMA Wire

Zu diesem Zweck hat die Europäische Kommission vor kurzem die Einrichtung einer Faszilität "Rebuild Ukraine" vorgeschlagen, über die Zuschüsse und Darlehen in das Land fließen können. Da der Mittelbedarf der Ukraine enorm ist, muss die Europäische Union jedoch neue Finanzierungsquellen finden, zu denen die eingefrorenen Devisenreserven der russischen Zentralbank, die konfiszierten Mittel russischer Staatsunternehmen und die beschlagnahmten Vermögenswerte russischer Oligarchen gehören sollten, die auf den Sanktionslisten des Westens stehen.

Moralische Stärke

Von Tag zu Tag wird deutlicher, dass die Verteidiger der Ukraine – gleich ob sie als Freiwillige in der Territorialverteidigung der Ukraine oder in den regulären Streitkräften dienen – über genug Mut, Entschlossenheit und moralische Stärke verfügen, um diesen Krieg zu gewinnen. Leider reichen die militärische Unterstützung und die humanitäre Hilfe, die in der Ukraine ankommen, bisher noch nicht aus, um die Kräfteverhältnisse klar zu ihren Gunsten zu verschieben. Die EU hat ihren Wiederaufbauplan an demselben Tag angekündigt, an dem 1.000 ukrainische Kämpfer aus dem Asow-Stahlwerk in Mariupol, dem Herzen der ukrainischen Metallindustrie, das sie über 80 Tage lang verteidigt hatten, evakuiert wurden.

Seit Beginn des brutalen russischen Angriffs am 24. Februar führt die Ukraine diesen Krieg an der Grenze Europas mit einem Handicap. Zwar haben viele ihrer Verbündeten großartige Hilfsversprechen gemacht und Russland verurteilt. Die Waffen, die das Land braucht, liefern sie aber nicht oder nur mit unentschuldbaren Verzögerungen. Die Ukrainer verteidigen die europäischen Werte, stoppen ein imperialistisches Russland und kämpfen damit auch für Europa. Leider tun viele europäischen Staaten noch immer so, als sei nicht auch ihre eigene Sicherheit in Gefahr.

Während Ukrainer noch gegen die Invasoren kämpfen, haben die Menschen in den befreiten Gebieten wie den Städten und Dörfern nördlich von Kiew bereits mit dem Wiederaufbau ihrer Häuser und ihres Lebens begonnen. Dabei brauchen sie Hilfe.

Bilder der Zerstörung: von den russischen Truppen zerbombte Häuser.
Foto: APA/AFP/SERGEI CHUZAVKOV

Wir sind für die bisher geleisteten Hilfen in geschätzter Höhe von 4,1 Milliarden Euro dankbar und begrüßen die zusätzlichen 9 Milliarden Euro Makrofinanzhilfe, die die Kommission vor kurzem in Aussicht gestellt hat. Aber dieser Krieg kostet die Ukraine jeden Tag hunderte Millionen Dollar. Die EU schätzt, dass sich die Reparaturkosten nach dem Ende des Konflikts allein für die physische Infrastruktur auf mindestens 100 Milliarden Euro belaufen dürften.

Wenn die Ukraine wieder frei ist, müssen ihre industriellen Zentren, Häfen und Städte wieder aufgebaut werden. Das Land wird ein Konjunkturpaket nach dem Vorbild des Marshallplans brauchen, das die Wirtschaft mit einer sofortigen Geldspritze wieder in Schwung bringt und den Ukrainern Arbeitsplätze und europäischen, amerikanischen und kanadischen Unternehmen Aufträge sichert. Die Ukrainerinnen und Ukrainer werden aber nicht einfach alles wieder aufbauen, was die Russen zerstört haben. Sie werden ihr Land besser machen, als je zuvor.

"Mit einem Marshallplan für das Land lässt sich dem russischen Präsidenten am besten zeigen, dass seine brutale Aggression nicht belohnt wird."

Mit ihrem Einsatz in diesem Krieg hat die Ukraine bewiesen, dass sie ein starkes und verlässliches Mitglied der EU und der Nato sein wird. Wenn die Ukrainerinnen und Ukrainer ihr Land wieder aufbauen, werden sie es dabei gleichzeitig auf das europäische Projekt ausrichten. Die Ukraine wird als dauerhaftes Vorbild für eine tolerante und offene Gesellschaft und ein Land dienen, das seine Menschen und seine Werte verteidigt.

Außerdem wird der Wiederaufbau der Ukraine sich an der Vision der ökologischen Nachhaltigkeit orientieren. Zur europäischen Zukunft des Landes gehört auch die Beendigung der Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen aus Russland. Die Ukraine hat bereits angefangen, ihr Stromnetz in die europäischen Netze zu integrieren. Sobald der Wiederaufbau in Schwung kommt, will die Politik die Energieinfrastruktur des Landes vollständig in die europäischen Netze integrieren, seine Energieimporte diversifizieren und die erneuerbaren Energien stark ausbauen. Dadurch wird die Ukraine eine Kraftzentrum für saubere Energien im Sinne des Europäischen Grünen Deals der EU.

Es stimmt mich optimistisch, dass die EU schon jetzt überlegt, wie sie den Wiederaufbau der Ukraine unterstützen kann. Mit einem Marshallplan für das Land lässt sich dem russischen Präsidenten am besten zeigen, dass seine brutale Aggression nicht belohnt wird. Ich hoffe, dass unsere Freunde in Europa und der Nato erkennen, dass ihr Beitrag für Frieden und Wiederaufbau in der Ukraine auch ein Beitrag für Frieden, Sicherheit und Wohlstand in der ganzen Welt ist. Der Widerstand gegen Russlands imperialistische Ambitionen und der Wiederaufbau der Ukraine sind Herausforderungen, denen sich die Menschen in der Ukraine nicht alleine stellen müssen. (Paul Grod, Copyright: Project Syndicate, 9.6.2022)