Die EU-Staaten einigen sich auf einheitliche Standards bei Mindestlöhnen, und die österreichischen Sozialpartner beruhigen gleich einmal: Brauchen wir nicht, wir sind eh super. Das stimmt, wenn man oberflächlich hinschaut. Das stimmt so nicht, wenn man ein wenig in die Tiefe blickt.

Die Selbstzufriedenheit der Sozialpartnerschaft hat ihre Grundlage darin, dass in Österreich 98 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nach Kollektivvertrag (KV) bezahlt werden. Aber: Die Kollektivverträge sind nur in jenen Branchen gut, in denen selbstbewusste, weil gut ausgebildete und nachgefragte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den Betrieben für ihre Rechte eintreten. In vielen anderen Branchen läuft das ganz anders.

Etwa 50.000 Frauen verdienen im Bereich der 24-Stunden-Betreuung zum Teil Hungerlöhne.
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Wenn die EU 60 Prozent des mittleren Einkommens eines Landes als gesetzlichen Mindestlohn festlegt, kommen die Sozialpartner in Österreich sehr wohl unter Druck – denn viele Einkommen in Österreich, vor allem in Hotellerie und Gastronomie, liegen darunter. Mag sein, dass sich dies demnächst ohnehin radikal ändert, weil an allen Ecken und Enden Arbeitskräfte fehlen und die Arbeitgeber notgedrungen höhere Löhne zahlen müssen. Doch selbst dann ist das kein Grund für den ÖGB, mit sich zufrieden zu sein. Viel zu lange hat man dort, wo es besonders schwierig ist, zu wenig Druck gemacht.

Hungerlöhne

Rund 130.000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verdienen derzeit unter 1700 Euro brutto; die Zahl der Scheinselbstständigen, etwa im Bereich Paketzustellung oder Botendienste, liegt im Dunkeln. Hier hat es lange gedauert, bis sich die Gewerkschaft überhaupt zuständig fühlte. Allein in der 24-Stunden-Betreuung ist das Problem riesig – etwa 50.000 Frauen verdienen in diesem Bereich zum Teil Hungerlöhne.

Apropos Frauen: Dass Kollektivvertragsabschlüsse seit Jahrzehnten nichts dazu beitragen, dass sich die Lohnschere zwischen Männern und Frauen schließt, kann auch kein Grund für Selbstzufriedenheit auf Gewerkschaftsseite sein.

Österreichs Sozialpartnerschaft ist unbestritten eine großartige Einrichtung – aber auch sie ist in ihren Strukturen, in ihren Verhandlungsmustern und Ritualen längst in die Jahre gekommen. Die Sozialpartner müssen jünger, weiblicher, diverser werden und auch über den eigenen sozialpartnerschaftlichen Tellerrand blicken. Sich damit zu beruhigen, dass man eh super ist bei der KV-Abdeckung, ist angesichts der vielen Probleme auf dem Arbeitsmarkt nur netter Selbstbetrug. (Petra Stuiber, 8.6.2022)