Vom früheren, inzwischen verstorbenen Wiener Bürgermeister Helmut Zilk hat man gelegentlich gewitzelt, dass er gerade wieder eine Leberkässemmel eröffnet habe. Er war ein notorischer Eröffner, der jede Gelegenheit nutzte, um sich seinem Wahlvolk zu zeigen und die Seitenblicke-Spalten und TV-Sendungen zu füllen.

In ihrer unübertroffen langen Amtszeit hat die Queen hunderttausende Bänder zur Eröffnung von Gemeindezentren, Schulen oder Spitälern durchschnitten, selbst kommunale Kläranlagen waren nicht unter ihrer Würde – von ihrer Präsenz bei Paraden, beim Ritterschlag für 387.000 Sirs und Dames und bei den Empfängen und Garden-Partys für aberhunderttausende prominente wie einfache Bürgerinnen und Bürger im Buckingham Palace gar nicht erst zu reden.

Mit ihrer täglichen persönlichen wie medialen Präsenz habe die Queen Marina Abramović längst ihren Platz als größte Performancekünstlerin der Welt streitig gemacht, schrieb zum 70-jährigen Thronjubiläum Londons The Art Newspaper. Die aus Serbien gebürtige Künstlerin Abramović verfestigte ihren internationalen Ruf 2010 mit ihrer Performance The Artist is Present. 30 Tage lang saß sie acht Stunden täglich im Museum of Modern Art in New York City, während ein nicht abreißender Strom von Besuchern ihr gegenüber unterschiedlich lang Platz nahm (ein Dokumentarfilm zu dieser Performance wird bei der diesjährigen Viennale gezeigt, natürlich während die Künstlerin selbst präsent ist).

Kontakt, aber echt

"Was mich völlig überraschte, war das enorme Bedürfnis der Menschen nach Kontakt", resümierte Marina Abramović ihre Erfahrung. Das enorme Bedürfnis nach menschlichem Kontakt: Dieses ist wohl am meisten in den beiden vergangenen Jahren zu kurz gekommen. Und auch ohne pandemische Einschränkungen ist die Präsenz von CEOs und der C-für-alles-Os und Führungskräften generell in vielen Unternehmen ein knappes Gut. Die menschlichen Lieferketten für diese Art der Zuwendung sind ohnehin oft nur schwach entwickelt, jetzt drohen sie gänzlich dem Homeoffice zum Opfer zu fallen.

Dabei geht es nicht um die Wiederherstellung der Nine-to-five-Präsenz von Office-Drohnen, wie sie neulich Tesla-CEO Elon Musk von seinen Mitarbeitern unter Androhung fristloser Entlassungen forderte. Unvergesslich wurde diese Art von Büropräsenz von Billy Wilder in seinem Meisterwerk Eins, zwei, drei karikiert: Ein riesiges Büro mit endlosen Reihen von Schreibkräften, vorwiegend Fräuleins, die geflissentlich aufspringen, wenn James Cagney als Coca-Cola-Boss auf dem Weg in seine Chefsuite durchmarschiert. Nur noch soziopathisch veranlagte CEOs in Elon-Manier träumen heute von solchen Arbeitswelten.

Sie hat mich wahrgenommen. Mich! Führungskräfte haben jetzt echte Präsenz zu zeigen.
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Präsenz, wie sie die Queen, der Bürgermeister oder die Performancekünstlerin demonstrierten, meint anderes: Es meint Dasein für den menschlichen Kontakt, und sei es auch nur in der Symbolik einer Glückwunschkarte, der Eröffnung eines städtischen Schwimmbads vor TV-Kameras oder einer Museumsinstallation. Für viele Führungskräfte ist es wahrscheinlich überraschend, dass selbst in den Du-Kulturen moderner Organisationen, in denen Hierarchien vorgeblich nur noch auf der Visitkarte existieren, ein enormes Bedürfnis der Menschen nach Kontakt besteht. Das Bedürfnis nach menschlichem Kontakt mit der Chefin und dem Chef, nicht zu verwechseln mit dem angeblich so vermissten Menscheln auf Gängen und in Kaffeeküchen, bei denen die Chefitäten ohnehin nicht präsent waren.

Präsent zu sein stellt andere Anforderungen an Führungskräfte als nur deren bloße Anwesenheit. Die Kunst der Präsenz besteht darin, in diesem Moment des Kontakts ganz die Person zu sein anstelle der Funktion, einander für diesen Augenblick ohne Amt und Titel zu begegnen. Davor scheuen viele zurück, denn solche persönlichen Begegnungen machen es scheinbar schwerer, in anderen Situationen die Rolle als Chefin oder Chef wahrzunehmen – wenn es Kritik gibt, es um Gehaltsverhandlungen geht oder gar eine Kündigung auszusprechen ist.

Das Resultat ist häufig der Rückzug in Formalitäten, Ansprachen bei Weihnachtsfeiern, Rundbriefe, Belobigungen unter Einhaltung der hierarchischen Kette. "Wertschätzendes Verhalten" im gern gebrauchten Human-Resources-Jargon.

Anstrengung, aber echt

Wir neigen in unserer Zeit dazu, symbolische Handlungen wie die Glückwunschkarten einer Queen als Massenpost gering zu schätzen. Häufig werden sie von Sekretariaten erledigt, ohne dass der Absender überhaupt davon weiß. Es geht auch anders: Ende der 1980er-Jahre hatte ich als innenpolitischer Redakteur des STANDARD öfter Gelegenheit, den damaligen Universitätsminister Erhard Busek zu Gesprächen zu treffen.

Bei einem dieser Termine fiel mir auf, dass er bei diesem wie auch bei früheren Gesprächen nebenbei einen enormen Stapel von Briefen unterschrieb. Er erklärte mir schließlich, worum es ging: Es waren rund 4000 persönliche Schreiben an alle Lehrenden der Unis, die er für seine Universitätsreform gewinnen wollte, vom Minister persönlich unterzeichnet. Etwas später erzählte er mir amüsiert, dass die Hauptreaktion der Empfänger im Rätselraten bestand, ob es tatsächlich seine persönliche Unterschrift war oder nur ein Druck. Seine Präsenz wurde jedenfalls registriert.

Im Post-Corona-Alltag braucht es besondere Anstrengungen, damit Führungskräfte wieder präsent sind. Ein persönlicher Anruf, um zum Firmenjubiläum oder zum Geburtstag zu gratulieren, ein kleiner Chat am Handy zu einem gelungenen Projekt, die Teilnahme an einem Teammeeting statt eines formellen Termins beim Vorstand – wer das Prinzip Präsenz versteht und als Führungsaufgabe ernst nimmt, wird auch den geeigneten Weg dazu finden.

Auch altmodische, von Hand geschriebene Glückwunschkarten sind erlaubt: Als Kontrapunkt zum digitalen Alltag werden sie sicherlich positiv wahrgenommen. (Helmut Spudich, 13.6.2022)