Thema Corona-Krise: "Records" bei Impulstanz.

Foto: MARC COUDRAIS

Hinter einer dunklen Wolkenbank bricht der Tag an. Die Sonne zwängt ein giftiges Orange zwischen Horizont und Regenfahnen. Heftiger Wind und ferne Brandung rauschen. Im Halbdunkel vor einem großen Videofenster und einer darunter gesetzten langen Wand baut sich eine Gestalt auf. Und noch eine, und die nächste – so lange, bis sich sechs Frauen mit nackten Oberkörpern auf der Bühne versammelt haben.

Stimmungsgeladen beginnt das neue Stück Records von Mathilde Monnier, einer der Überfiguren des zeitgenössischen französischen Tanzes, das gerade bei Impulstanz im Akademietheater zu sehen ist. Darin lässt die Choreografin einer sensiblen Frauen-Power die Zügel schießen.

Langsam verziehen sich die Wolken, bis eine grelle, aggressive Sonne durch die diesige Atmosphäre brennt. Den jungen, kraftvollen Tänzerinnen wird nicht nur die weiße Wand zur Herausforderung, sondern auch ihr eigener Stimmungswechsel unter dem glühenden Stern. Monnier zeigt hier Gefühlslagen, die sich während der Corona-Lockdowns in die Gemüter vieler sozial isolierter Menschen gebildet hatten.

Draußen ist die Welt, und drinnen – bei Records auf der Bühne – geht die Existenz weiter. Erst lehnen die Tänzerinnen lässig an der Wand oder sitzen und liegen abwartend auf dem Boden, schauen sich kurz das Publikum an, üben ein paar Posen und Drehungen. Eine weibliche Stimme beginnt zu singen.

Die Frauen haben genug vom Warten. Sie erfinden Spiele, funktionieren die Wand mit Händen und Füßen zum Perkussionsinstrument um, tanzen an der und gegen die Barriere, stampfen auf und kommen in einen Rhythmus – erst vereinzelt, dann gemeinsam und synchron, in zunehmender Komplexität. Plötzlich wirft eine Tänzerin den Kopf in den Nacken und schreit: "Do something!" Die Stimmung kippt, die Situation wird kritisch.

Verrückte Wirklichkeit

Eine andere Wirklichkeit öffnet sich, und die ist verrückt. Die Frauen geraten in eine Kakofonie aus pseudolustigen elektronischen Geräuschen, ganz so, als wären sie in ein altes Computerspiel gefallen. Sie verwandeln sich in Zerrbilder ihrer selbst, wirken wie animierte Figuren. Über den Boden fließt rotes Licht. "Wow!", ruft eine von ihnen. "Wow", quäkt es aus einem maschinellen Off zurück.

Da passiert’s: In ihrer Verlorenheit geben sich die Frauen einer wahren Wow-Orgie hin, die beklemmend wirkt wie wohl jeder vergebliche Befreiungsversuch. In der Abendstimmung zum Schluss steht die Gruppe trotzdem nicht wie ein Häufchen Verliererinnen da. Sie wirft ihre Hektik ab und nimmt wieder eine abwartende Haltung ein. Mit Records hat Monnier ein Musterbeispiel dafür gesetzt, wie die Covid-Krise im Tanz verarbeitet werden kann: so, dass auch andere Lesarten möglich werden, etwa eine feministische oder eine der Kritik an den digitalen Fallen unseres Lebens. Ein Meisterinnenwerk. (Helmut Ploebst, 15.7.2022)