Mithilfe von zwei getrennten Kristallen können physikalische Messungen durchgeführt werden, die enorm exakt sind (Symbolbild).
Foto: REUTERS/Lisi Niesner

Im Wiener Prater wurde 1974 Physikgeschichte geschrieben: Helmut Rauch, Professor am Atominstitut der Technischen Universität Wien, konnte dort erstmals zeigen, dass Neutronen Welleneigenschaften haben. Wie für viele andere Quantenobjekte, etwa Photonen oder Elektronen, sagt die Theorie voraus, dass sich auch Neutronen unter gewissen Umständen wie Wellen verhalten.

Doch die Teilchen geben ihre Welleneigenschaften nur ungern preis. Um sie zu beobachten, leitete Rauch Neutronen aus dem Triga-Forschungsreaktor durch einen hochreinen Siliziumkristall. In den Kristall fräste er zwei U-förmige Vertiefungen, sodass drei dünne Platten aus dem Sockel des Kristalls ragten. An der ersten Platte werden die Neutronen nach oben oder unten gestreut und so auf zwei Pfade gelenkt. Die zweite Platte funktioniert wie Spiegel, die die Neutronen reflektieren und sie auf denselben Punkt in der dritten Platte lenken.

Sich beeinflussende Wellen

Diese Beschreibung stimmt aber nur teilweise. Misst man nicht, in welchem Pfad sich die Teilchen befinden, nehmen die Neutronen als Welle beide Wege auf einmal durch ein Messgerät, das Interferometer. Im Namen steckt bereits der Clou: So, wie sich Wellen gegenseitig verstärken oder auslöschen können, interferieren auch die Anteile der Neutronenwellen, die verschiedene Pfade genommen haben. Sind beispielsweise die Pfade unterschiedlich lang, entsteht ein Interferenzmuster, wie man es von Wasserwellen kennt.

Doch Rauchs Methode hat einen Haken: Der gesamte Aufbau muss aus einem einzigen Siliziumkristall gefertigt werden – schon winzige Vibrationen oder Verschiebungen der Platten zueinander im Ausmaß von einem Atomdurchmesser zerstören die Interferenz. Das limitiert die Größe des Interferometers und damit seine Einsatzgebiete. Viele Forschungsbereiche würden von größeren Geräten profitieren.

Kanaldeckel am Mond treffen

Neutroneninterferometer mit längeren Pfaden könnten für präzise Experimente verwendet werden, etwa, um den Einfluss der Schwerkraft auf Quantenobjekte zu vermessen. Um lange Wege zu erreichen, muss der Kristall zerteilt werden. Doch dabei ging bisher die genaue Ausrichtung der Platten verloren – infolgedessen brach die Interferenz zusammen.

Das Forschungsteam, dem der besonders präzise Aufbau gelang: Michael Jentschel, Carlo Paolo Sasso, Enrico Massa und Hartmut Lemmel.
Foto: Michael Jentschel, ILL

Nun ist jedoch ein wichtiger Durchbruch gelungen: Ein Forschungsteam der TU Wien sowie der italienischen und französischen Institute INRIM Turin und ILL Grenoble schaffte es, mit äußerst exakt ausgerichteten Kristallen eine Hochpräzisionsmessung durchzuführen. Alles musste so exakt aufeinander abgestimmt sein, als wolle man ein Teilchen von Wien nach Grenoble – rund 900 Kilometer Entfernung – schießen und damit dort eine Stecknadel treffen. Oder von der Oberfläche der Erde aus einen Kanaldeckel auf dem Mond erwischen, heißt es in einer Aussendung der TU.

Schwerkraft und Quanten

Dabei machte sich das Team Erfahrung aus ähnlichen Experimenten mit Röntgenstrahlen zunutze. Es baute unter anderem ein Laser-Interferometer ein sowie Elemente, die beispielsweise die Temperatur stabilisieren und Vibrationen abdämpfen.

So sei ein entscheidender Durchbruch möglich gewesen, sagt Michael Jentschel vom Forschungsinstitut in Grenoble: "Wenn man zwei Kristalle so gut kontrollieren kann, dass Interferometrie möglich wird, dann kann man auch den Abstand zwischen diesen Kristallen erhöhen und somit recht einfach die Größe des Gesamtsystems erweitern."

So exakt wie noch nie können auf diese Weise grundlegende Wechselwirkungen gemessen werden. Der bemerkenswerte Aufbau wird ganz neue Quanteneffekte messen können – sogar, wie sich die Schwerkraft im Quantenbereich auf Neutronen auswirkt. (Dorian Schiffer, sic, 25.7.2022)