Vielfache militärische Erfahrung zeigt, dass partielle Vereinbarungen zwischen zwei Kriegsparteien sehr oft sofort nach Abschluss noch einmal verletzt werden. Das muss nicht sofort zu deren Zusammenbruch führen. Aber das mit dem Raketenangriff auf den Hafen in Odessa abgegebene russische Statement, dass der Krieg gegen die Ukraine sich vom "Weizendeal" nicht bremsen lässt, triff dessen Substanz. Da ist einerseits der physische Schaden, andererseits der Schlag ins Gesicht der Vermittler – und viel mehr noch der Menschen, die so dringend auf diesen Weizen warten.

Der russische Raketenangriff auf den Hafen in Odessa, ist ein Schlag ins Gesicht vieler Menschen, die so dringend auf Weizen warten.
Foto: IMAGO/Anton Novoderezhkin

In Odessa wurde die Hafeninfrastruktur beschädigt; äußerst komplexe Vorgänge, den Weizen aus der Ukraine heraus und übers Schwarze Meer zu bringen, sind in der Durchführung noch schwieriger geworden. Neben allen technischen Details denke man etwa an Nebenaspekte wie Versicherungsfragen für die Weizentransporte.

Die Hintergründe, die Entscheidungsfindung in der russischen Führung und bei den Militärs sind undurchsichtig wie immer. Dem Kreml mögen die Spekulationen darüber, dass der Deal ein erster Schritt zu Verhandlungen sein könnte, zu weit gegangen sein. Die Befehlsstrukturen sind opak.

Vielleicht gab es militärische Prioritäten. Laut russischer Version wurde in Odessa auch US-Kriegsgerät getroffen. Das ist zweifellos eine Botschaft an Washington, das just am Freitag nicht nur eine neue 270-Millionen-Dollar-Waffenlieferung für die Ukraine ankündigte. Auch die Lieferung von Kampfjets für einen späteren Zeitpunkt wurde in den Raum gestellt.

Dass Russland der Türkei gegenüber den Angriff zuerst leugnete, dann international als Operation gegen den militärischen Teil der Werft bezeichnete und zugab, lässt Ankara als Mitunterzeichner besonders schlecht dastehen. Das ist in Moskau bestimmt nicht unerwünscht. Das Teheraner Treffen der beiden Präsidenten Wladimir Putin und Recep Tayyip Erdoğan vergangene Woche lief auch auf persönlicher Ebene schlecht.

Russland stimmte dem türkisch vermittelten Deal nur deshalb zu, weil es von den eigenen Exportproblemen extrem belastet ist. Für viele von der Getreideknappheit betroffene Menschen vor den Toren Europas ist der Weizendeal hingegen eine Frage von Leben und Tod. Sie können sich buchstäblich das tägliche Brot nicht mehr leisten.

Lawrows Ägypten-Reise als Chance

Deshalb kann man es vielleicht eine glückliche Fügung nennen, dass der russische Außenminister Sergej Lawrow gerade jetzt in Kairo seine PR-Tour in fünf afrikanische Länder beginnt. Ägypten ist einer der Staaten, für die eine Hungerkrise nicht nur zu einer humanitären Katastrophe, sondern auch zu einer politischen Destabilisierung führen könnte.

Man kann es vielleicht eine glückliche Fügung nennen, dass der russische Außenminister Sergej Lawrow gerade jetzt in Kairo seine PR-Tour in fünf afrikanische Länder beginnt.
Foto: IMAGO/Russian Foreign Ministry

Wenn Hunderttausende sich auf den Weg nach Europa machen, wird das Präsident Wladimir Putin nicht kratzen. Im Gegenteil: Alles, was die westliche öffentliche Meinung gegen den Krieg – nicht gegen die russische Aggression – treibt, kann ihm nur nützlich sein.

Aber Ägypten ist auch ein wichtiger Partner Russlands, das dort unter anderen soeben den ersten Atomreaktor im Land am Nil baut. Afrika ist auch ein Stück russischer Zukunft. Von seinen Gesprächspartnern wird Lawrow das hören, was auch besuchenden westlichen Politikern und Politikerinnen stets gesagt wird: Wenn wir untergehen, dann nehmen wir euch mit in den Abgrund. (Gudrun Harrer, 24.7.2022)