Krieg, Abstieg und Autokratie – das ist elf Jahre nach dem Revoltenjahr 2011 geblieben, das für so viele Menschen in arabischen Ländern große Hoffnungen gebracht hatte. Noch im Vorjahr, als die Zehnjahresbilanz gezogen wurde, galt Tunesien mit seinem schwierigen, aber aufrechten politischen Prozess als Ausnahme: bis der 2019 gewählte Präsident Kais Saied, wie einem Autoritarismus-Leitfaden folgend, nach und nach die demokratischen Institutionen entmachtete. Korruption, Misswirtschaft und politische Lähmung, die zuvor das Land beinahe unregierbar machten, sorgen bis heute dafür, dass der Präsident eine gewisse Unterstützung hat. Die meisten Tunesier und Tunesierinnen haben sich aber ganz einfach enttäuscht und erschöpft von der Politik abgewandt. Schlimmer kann es nicht werden, sagen sie sich.

Viele, die bei Kais Saieds Referendum für seine neue Verfassung stimmen, glauben, den Säkularismus dadurch zu sichern.
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Ein Jahr lang hat Saied per Dekret regiert, jetzt stellt er mit einer neuen Verfassung die neuen Regeln auf. Sie werden die Wahl eines ihm genehmen neuen Parlaments ermöglichen. Das Versprechen, das neue Grundgesetz im Dialog mit der Zivilgesellschaft zu schreiben, hat der Präsident nicht gehalten. Er griff sogar noch massiv in den Entwurf eines von ihm selbst geschaffenen Verfassungskomitees ein. Der oft gebrauchte Begriff "hyper-präsidial" für das System, das er Tunesien gibt, ist sperrig, trifft es aber genau.

Lässt sich mit dem Referendum der Säkularismus sichern?

Ein Trick alter und neuer arabischer Potentaten ist es, ihrer Bevölkerung weiszumachen, dass nur ihr autoritäres Regime die Islamisten von der Macht fernhalten könne. Im Falle Tunesiens ist damit die alte Muslimbrüderpartei Ennahda gemeint, die die Wahlen nach dem Sturz des Diktators Zine El Abidine Ben Alis 2011 erst einmal gewann, in den Jahren danach jedoch entzaubert wurde und sich mit anderen politischen Kräften arrangieren musste. Tunesien hat starke säkulare Traditionen – und viele, die bei Kais Saieds Referendum für seine neue Verfassung stimmen, glauben, den Säkularismus dadurch zu sichern.

Nicht einmal das stimmt, wie die tunesische Juristin Meriem Rezgui auf dem Nahost-Portal "Zenith" festhält. Überraschend wird Tunesien im neuen Verfassungstext als "Teil der islamischen Umma" bezeichnet, und nur der Staat sei der Bewahrer der Gebote des Islam. Die Absicht dahinter ist klarerweise, dass auch noch in der kleinsten Moschee Kontrolle ausgeübt werden kann. Aber dennoch bleibt übrig, dass in dieser Verfassung mehr Islam drin ist als in der postrevolutionären von 2014, die Saied abgeschafft hat. Kais Saied will das tunesische System ja auch "entwestlichen", und dazu taugt ihm der Islam allemal. (Gudrun Harrer, 25.7.2022)