Ursina Lardi und Devid Striesow spielen in "Verrückt nach Trost" ihre kindlichen Alter Egos.

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Die Bühne ist eine Zeitmaschine. Hier gilt das gleich in beide Richtungen. Zwei erwachsene Menschen, Ursina Lardi und Devid Striesow, werden in einer Art weicher Überblendung über wenige Sekunden zu zehn- und elfjährigen Kindern. Das gemeinsame Spiel zeigt sie schließlich so, wie sie sich ihre Eltern immer vorgestellt haben. Charlotte und Felix sind Brüderchen und Schwesterchen, zwei Schaumgeborene – sie kommen "aus dem Meer". Mehr soll man über sie nicht wissen in Thorsten Lensings Verrückt nach Trost bei den Salzburger Festspielen, muss man erstmal auch nicht.

Lardi und Striesow spielen gerade nicht Kinder als "Figuren". Sie verändern Haltung, Tempi, Körperspannung und minimal die Modulation ihrer Stimmen so weit, bis die Betrachtenden sich darauf einlassen, mehr wahrzunehmen als sie sehen. Es ist Illusionismus ohne Illusion, Zauberei ohne magisches Tuch, Kaninchen ohne Zylinder oder einfach nur die Kernkompetenz des Theaters.

Bedeutungskraft des Theaters

Das wird sich über dreieinhalb Stunden fortsetzen in einer Bühnen-Séance, zu der André Jung und Sebastian Blomberg hinzustoßen, zu der der Regisseur Lensing auch den Text verfasst hat. Man wird einen Oktopus sprechen hören, ein Orang-Utan und eine Schildkröte dagegen schweigen, einen Roboter Liebe geben sehen und trotzdem ein ernsthafter Mensch bleiben können – in einem Theater, das sich auf nichts anderes verlässt als seine Behauptungskraft.

Auf Sinnsuche im Strand-Setting.
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Charlotte und Felix kichern erst einmal noch ausgelassen, kitzeln einander, cremen sich mit Sonnenschutz ein, rücken noch näher aneinander heran. Spielen wir Mama und Papa? "In Echt", wie Kinder sagen, wenn der Ernst ihrer Einbildungskraft sie ganz erfasst hat. Denn Mama und Papa sind nicht mehr da, sie sind tot. Für immer. Die Geister der Toten müssen so lange wiederkehren bis die Lebenden deren Tod akzeptieren. Ein Text im Programm bringt das mit den "pompa funebris", den Trauerumzügen im alten Rom zusammen.

Das Theater als Pompfüneberer? Eine überraschend tragfähige Hypothese, nicht nur für diesen Abend. Wie soll man auch mit dem Tod wirklich klarkommen, mit dem der anderen noch weniger als mit dem eigenen? Verrückt nach Trost will darauf noch die finalen Antworten geben. Nach dreieinhalb Stunden ist Charlotte 88 Jahre alt, der Pflegenotstand ist gelöst in Gestalt eines Roboters (André Jung), der seine Schutzbefohlene liebend umfängt, auf einen hohen Thron setzt und das Publikum die Hymne der Königin ansummen lässt.

Die Tiefe der Welterklärung

Davor geht es in die Tiefen der Welterklärung und des Meeres, dessen Brandung die Bühnenarchitekten Gordian Blumenthal und Ramun Capaul mit einer rampenbreiten stählernen Pipelineröhre darstellen. Die Kinder finden einen Taucher (Sebastian Blomberg), ein Todessüchtiger, der zu lange unten war. Es folgen Träume und Romanfiguren, in Umkehrung zur Eingangsszene die Vision vom schreienden vernachlässigten Kind auf einem leeren Parkplatz. Blomberg evoziert den Traum, die Gedanken einer Kuh am Tag ihrer Schlachtung. Wir lernen, dass sie nicht nur den eigenen Schmerz spürt, sondern auch noch den der Gattung.

Andre Jung als Pflegeroboter und Ursina Lardi als gealterte Charlotte.
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Das Nicht-Spüren erzeugt ebenso Leid. Zwei Männer (André Jung und Devid Striesow) liegen nach dem Sex im Bett. Dem einen, wohl Felix‘ Fortsetzung im Erwachsenenalter, wird gewahr, dass er selbst im Höhepunkt keinen Lidschlag rührt. Die unbewältigte Trauer hat ihm den Körper betäubt. Das Bewusstsein davon verdoppelt den Schmerz.

In Lensings Garten Eden des Posthumanismus wird Felix‘ Schwester schließlich zum Octopus. Diese Tiere wachsen ohne das Vorbild von Eltern auf, haben aber neun Hirne, um es besser zu wissen, und drei Herzen, um intensiver zu fühlen. Der Zorn des Kopffüßlers ist unbändig bis in die zierlichen Ballettschuhe von Ursina Lardi, weil für ihn nach vier Jahren Schluss ist, während irgendwelche hirnlosen Mollusken schier ewig leben.

Oktopoden als Projektionsfläche

Oktopoden mit ihrem hoch- aber eben anders entwickelten Körperbau und den Rätseln, die ihrer Physiognomie scheinbar aufgibt, werden gerade zu Projektionsflächen für all das, was Menschen fehlt – Stefan Kaegi und Rimini Protokoll besaßen sogar einen echten. Wenn Tiere sprechen könnten, was würden sie zu dem ganzen Kram sagen, den die versammelte menschliche Welt in sie reinprojiziert? Im Gestus der Welterklärung mit den Anflügen von Geheimlehre hat der Dichter Lensing dem Regisseur diesmal nicht unbedingt einen Gefallen getan. Man wünscht kommenden Arbeiten wieder den Widerstand starker fremder Texte, an denen sie weiter wachsen können.

Dennoch bleibt Verrückt nach Trost ein Fest für vier Schauspieler, deren Qualitätsniveau man in den Routinen des Betriebs hierzulande schon länger entbehrt, und einen Regisseur, der die Entfaltung dieser Qualitäten ermöglicht, wie kaum ein anderer. Lensing ist der Franziskaner unter den Theatermachern, nicht nur weil er mit den Tieren spricht, sondern auch, weil ihm die besten Schauspieler bedingungslos folgen, auf dass er ihnen in der Arbeit bedingungslos folgt, selbst um den Preis, dass es gegen aller Verwertungslogik nur alle paar Jahre zu einer Premiere kommt.

Theater, das nur auftritt, wenn es was zu sagen hat? Das hat etwas Revolutionäres in einer Branche, die besessen ist von Auslastungszahlen und dem Wahn, dass jeden Abend der Vorhang hochgehen muss. (Uwe Mattheiß, 7.8.2022)