Mittlerweile schlüpfen in mehreren Regionen viel mehr weibliche als männliche Meeresschildkröten.
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Geschlecht ist ein interessantes Konzept der Natur: Bei vielen Arten sorgt ein Zusammenspiel bestimmter Chromosomen, Geschlechtsorgane und Hormone für die Ausprägung männlicher und weiblicher Typen. Die "typischen" Eigenschaften kann man sich wie auf einem Spektrum vorstellen: Menschen und andere Tiere können etwa in vielen Merkmalen eher im weiblichen Durchschnitt liegen, in anderen wiederum den männlichen Artgenossen näher sein.

Bei manchen Spezies ist die Wechselhaftigkeit der Geschlechter die Regel – so gibt es hermaphrodite Schnecken mit mehreren Genitalapparaten und Clownfische, die im Laufe ihres Lebens unterschiedliche Geschlechter haben. Und bei anderen hängt es stark von den Umweltbedingungen ab, welches Geschlecht ein Embryo ausbildet. Bei Krokodilen, Eidechsen und Schildkröten ist die Bruttemperatur ein wichtiger Einfluss: Je nachdem, ob ein befruchtetes Ei in wärmerem oder kühlerem Milieu liegt, schlüpft später ein Männchen oder ein Weibchen.

Dass eine solche Entwicklung in Zeiten der globalen Erwärmung für ganz eigene Probleme sorgen kann, zeigt sich aktuell in Florida. An den Stränden des US-Bundesstaats brüten Meeresschildkröten. Offenbar wurden in den vergangenen vier Jahren nahezu ausschließlich weibliche Schildkrötenbabys beobachtet, teilte Bette Zirkelbach der Nachrichtenagentur Reuters mit. Sie leitet eine Schildkrötenklinik in der Kleinstadt Marathon.

Mehr Wärme, weniger Testosteron

Ihr zufolge haben Forschende dort "in den letzten Jahren keine männlichen Schildkröten gefunden". Muttertiere legen die Eier in Sandgruben ab und schaufeln sie zu – so brütet die Wärme der Sonne die Tiere aus. Liegt die Temperatur eines Eies zumeist bei etwa 30 Grad Celsius und höher, schlüpft daraus in der Regel eine weibliche Meeresschildkröte. Ist es kühler – bei etwa 28 Grad und darunter –, schlüpfen vermehrt Männchen. Werden bei einem Gelege Umgebungstemperaturen gemessen, die dazwischen liegen, kommen männliche und weibliche Schildkröten zur Welt.

Die Temperatur des Sandes bestimmt das Geschlecht einer Meeresschildkröte. Nach dem Schlüpfen graben sich die Jungtiere an die Oberfläche und müssen schleunigst das Meer erreichen, um nicht von Fressfeinden erwischt zu werden.
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Wie das auf molekularer Ebene funktioniert, ist bisher nicht ausreichend erforscht. Fachleute gehen aber davon aus, dass das Enzym Aromatase bei Schildkröten eine wichtige Rolle spielt. Es kann das Hormon Testosteron, das bei Männchen in höherer Konzentration vorhanden ist, in Östrogen umwandeln, dessen Spiegel wiederum bei Weibchen höher ist. Und je wärmer es ist, desto aktiver ist auch die Aromatase – und bildet mehr Östrogen, wodurch die weibliche Geschlechtsausprägung angetrieben wird.

Sinkende Diversität

Dass Zirkelbachs Teammitglieder mittlerweile keine Männchen aufspüren, passt zu den steigenden Temperaturen. "Es ist beängstigend: Die letzten vier Sommer waren die heißesten seit Beginn der Temperaturaufzeichnungen", sagt die Klinikdirektorin. Unter Fachleuten ist die Sorge groß, dass angesichts der Klimakrise in den kommenden Jahrzehnten keine Änderung des Trends in Sicht ist. So könnten Meeresschildkröten, aber auch andere Reptilien evolutionär betrachtet in immer problematischere Gewässer kommen.

Prinzipiell ist das Überleben von Meeresschildkröten auch dann gewährleistet, wenn das Geschlechterverhältnis nicht gleichmäßig ist. Männchen können sich mit mehreren Weibchen paaren und so für mehr Nachwuchs sorgen. Doch wenn nach einigen Generationen keine männlichen Tiere mehr zu finden sind, ist die Art gefährdet.

Selbst bei wenigen Dutzend Männchen, die die Eier von hunderten oder tausenden Weibchen befruchten, kann sich das negativ auf die Populationen auswirken. Immerhin sind sich die Nachkommen dann genetisch relativ ähnlich – leiden sie unter den gleichen Umwelteinflüssen, ist die Wahrscheinlichkeit geringer, dass genug Exemplare dabei sind, die zufällig besser angepasst sind und die Art erhalten können.

Von Florida zum Great Barrier Reef

Das Problem zeigt sich auch in Australien. Vor vier Jahren berichtete ein Forschungsteam, dass am Great Barrier Reef beinahe alle neugeborenen Meeresschildkröten weiblich seien. Die Tiere gibt es schon seit 100 Millionen Jahren – eine Zeitspanne, in der die weltweiten Durchschnittstemperaturen immer wieder sanken und stiegen. Aktuell ist die Lage jedoch anders geartet, sagt der Meeresbiologe Michael Jensen, Hauptautor der damaligen Studie: "Die Temperaturen ändern sich unglaublich schnell. Für eine evolutionäre Anpassung der Tiere sind viele Generationen nötig."

Bei Meeresschildkrötenbabys lässt sich das Geschlecht nur schwer herausfinden – durch eine kleine Operation oder die Bestimmung des Hormonspiegels. Erwachsene Männchen haben etwas längere Schwänze als Weibchen.
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Die Lebenszeit von 50 Jahren und mehr könnte die Schieflage noch eine Weile ausgleichen. Klar sei aber, dass sich die Situation schon während der Lebenszeit der Schildkröten dramatisch verändere, sagt Jensen.

Umgekehrtes Problem bei Krokodilen

Es gibt auch Maßnahmen, die wieder für mehr Männchen sorgen könnten – so lassen sich etwa Schattenzelte aufstellen, die dafür sorgen, dass sich der Sand um ein Gelege weniger stark aufheizt. Allerdings wäre das ein Eingriff, mit dem sich nicht jede Population retten ließe. Meeresschildkröten kehren immer wieder an jenen Strand zurück, an dem sie geboren wurden.

Außerdem handelt es sich dabei nicht um die einzige Tierfamilie, die von dem Problem betroffen ist: In Costa Rica beispielsweise geht der Trend bei Krokodilen zu immer mehr Männchen – denn bei diesen Panzerechsen sorgen höhere Temperaturen dafür, dass vor allem männliche Tiere schlüpfen. (Julia Sica, 8.8.2022)