Ein Jahr ist seit der erneuten Machtübernahme der Taliban in Afghanistan – oder korrekt gesagt, der Machtübergabe an die nationalreligiösen Paschtunen – vergangen, ein geopolitisch so ereignisreiches Jahr, dass es leichtgefallen ist, den Blick abzuwenden. In den Kommentaren zum Jahrestag kommt sie wieder zum Vorschein, die Rat- und Hilflosigkeit vom August 2021. Viel ist nicht dazugekommen. Die Berichte arbeiten sich meist am Schicksal der Frauen im Allgemeinen und der "in Stich gelassenen" Afghanen und Afghaninnen ab, also jener, die mit den ausländischen Truppen und der westlich gestützten afghanischen Regierung kooperiert haben. Als wäre nicht das ganze Land getäuscht und betrogen.

Eine Frau und ein Mädchen auf dem Weg in eine Schule in Kabul. Seit der erneuten Machtübernahme der Taliban in Afghanistan ist ein Jahr vergangen.
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Nüchterne Analysen, was aus Afghanistan in mittelbarer Zukunft werden könnte, erzeugen gefühlsmäßig ein ähnliches Dilemma wie die internationale humanitäre Hilfe für die Menschen: Geht das nicht schon in Richtung Anerkennung des Taliban-Regimes?

Ein Jahr nach ihrem Wiedereinzug in Kabul – zwei Jahrzehnte nach den Al-Kaida-Attentaten von 9/11 in den USA – halten die Taliban die Kontrolle, trotz eines beispiellosen Wirtschaftseinbruchs nach Abzug der internationalen Finanzierung, dem Einfrieren afghanischer Gelder und anderen Sanktionen. Darüber kann auch nicht der Widerstand hinwegtäuschen, der militärische wie im Punjab oder der zivile Ungehorsam von Frauen – und auch nicht der Terror des "Islamischen Staats".

Er verschlimmert die Paranoia und die Menschenrechtsverletzungen des Regimes und hat die Rückkehr von Al-Kaida – die die Taliban laut Pakt mit den USA von Afghanistan weghalten sollten – wahrscheinlich beschleunigt. Aber am ehesten scheinen die Taliban heute noch von internen Richtungskämpfen gefährdet.

Hinterlassenes Vakuum

Die internationale Gemeinschaft hat Wege gefunden, der Bevölkerung zu helfen, deren Überleben nun auch aus Gründen außerhalb Afghanistans – den explodierenden Nahrungsmittel- und Energiepreisen durch den Ukraine-Krieg – gefährdet ist. Offiziell sind die Taliban weiter politisch isoliert, keine Regierung weltweit hat sie anerkannt, zumindest nicht de jure. De facto kooperieren manche Nachbarländer weniger, manche mehr mit dem Regime, wie Usbekistan, wo im Juli eine große Afghanistan-Wirtschaftskonferenz stattfand.

Pakistan, dessen Regierung die Machtübernahme vor einem Jahr feierte, ist ernüchtert: Nicht ganz unerwartet sind die Probleme mit den eigenen Taliban gestiegen. Russland und China unterhalten Beziehungen und füllen in Afghanistan das hinterlassene Vakuum geografisch noch leichter als weiter westlich im – von uns aus gesehen – Nahen Osten. Auch die Vereinigten Arabischen Emirate (UAE), Katar sowie die Türkei strecken die Fühler nach Kabul aus, ein Zugang, der auch für den Westen interessant ist.

Dass die US-Geheimdienste funktionieren, zeigt die Tötung von Al-Kaida-Chef Ayman al-Zawahiri. Den Verlust an Einfluss und Respekt, den die USA durch den Abzug und dessen Umstände erlitten haben, macht das nicht wett. Dass ein Staat wie die UAE sich heute bemüßigt fühlen, in einem offiziellen Statement "provokative Besuche" wie jenen von US-Parlamentspräsidentin Nancy Pelosi in Taiwan zu kritisieren und sich hinter China zu stellen, illustriert bestens, was sich in der Region geändert hat. (Gudrun Harrer, 15.8.2022)