Seit mehr als zwei Jahren macht die Corona-Pandemie sichtbar, welche offenen Flanken unser Gesundheitssystem zum Teil seit Jahren hat: fehlendes Pflegepersonal etwa oder schlecht vernetzte Datensysteme.

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Spricht man mit Menschen, die das österreichische Gesundheitssystem kennen – und im Vergleich dazu auch das anderer Länder –, berichten diese meist voll Begeisterung von der hervorragenden Versorgung, die sie hierzulande erhalten. Und Österreich hat tatsächlich eines der besten Gesundheitssysteme der Welt – wenn man akut krank ist. Weniger gut aufgestellt ist es dabei, Menschen länger gesund zu erhalten. Das zeigt sich etwa daran, dass in Österreich die Zahl der gesunden Lebensjahre im Verhältnis zu den tatsächlichen Lebensjahren relativ niedrig ist. Frauen können hierzulande im Schnitt 58 gesunde Jahre genießen, Männer 57. Der europäische Durchschnitt liegt aber bei 65 bzw. 64 Jahren.

Und auch die Pandemie hat gezeigt, dass es im österreichischen Gesundheitssystem einige offene Baustellen gibt, von der Datenerfassung bis zum Bereich der psychischen Gesundheit. Wie man diese Probleme angehen kann, dafür gibt es klare Herangehensweisen und Konzepte. DER STANDARD hat Expertinnen und Experten um ihre Anregungen gebeten.

Barbara Prainsack: "Die Bedürfnisse der Patienten müssen im Vordergrund stehen."

Barbara Prainsack leitet das Institut für Politikwissenschaften an der Uni Wien und forscht zu Medizin- und Gesundheitspolitik.
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"Das Gesundheitssystem muss in gewisser Weise immer "Baustelle" sein, da es sich an die sich wandelnden Gegebenheiten und die Bedürfnisse der Menschen anpassen muss. Eine Herausforderung ist der menschliche Faktor: Die Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten müssen im Vordergrund stehen. Zu wenig Kassenärzte und lange Wartezeiten gefährden die Gesundheit, vergrößern Ungleichheiten – wer es sich leisten kann, geht zum Wahlarzt – und schwächen das Vertrauen ins System. Die Arbeitsbedingungen jener, die im Gesundheitssystem arbeiten, müssen sich bessern. Es gibt viel Aufmerksamkeit für neue Technologien und Therapien – aber "high tech" ohne "high touch" funktioniert nicht. Das Gespräch mit der Ärztin muss aufgewertet werden. Und es braucht die engere Zusammenarbeit zwischen medizinischer und sozialer Versorgung: Aktuell ist das Gesundheitssystem belastet, soziale Probleme zu lösen."


Thomas Czypionka: "Wir müssen Wege finden, Innovationen besser zu implementieren."

Thomas Czypionka ist Leiter des Bereichs Gesundheitsökonomie und Gesundheitspolitik im IHS.
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"Wir haben in Österreich ein sehr geplantes Gesundheitswesen, aber dennoch viel zu wenig Information. Auch die Pandemie hat gezeigt, dass wir zur Steuerung und Weiterentwicklung bessere Daten benötigen, die wir auch auswerten können.

Ein zweiter Punkt ist, dass wir Wege finden müssen, wie wir Innovation anregen und implementieren können. Derzeit gibt es wenig Raum dafür, Erfahrungen mit neuen Versorgungslösungen zu machen. Solche Erfahrungen sind jedoch notwendig, um ein System weiterentwickeln zu können. Da wir vorwiegend chronische Erkrankungen haben, kommt der Integration dieser Versorgung hohe Bedeutung zu. Dafür braucht es sektorübergreifende Lösungen, die auch möglichst gut mit dem Alltagsleben vereinbar sind. Diese müssen konzipiert und ausprobiert sowie evaluiert werden, bevor sie bei Erfolg implementiert werden können."


Barbara Sperner-Unterweger: "Es braucht Anreize, um das Fach Psychiatrie attraktiver zu machen."

Barbara Sperner-Unterweger ist Direktorin des Departments Psychiatrie und Psychotherapie an der Uni Innsbruck.
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"Der Fachbereich Psychiatrie muss als Mangelfach angesehen werden. Es gibt nicht genügend Fachärztinnen und auch nicht genügend in Ausbildung, um in Zukunft die bestehenden Versorgungsstrukturen in der bisherigen Form aufrechterhalten zu können. Man muss deshalb über Anreize nachdenken, die das Fach attraktiver machen. Auch sollte die psychotherapeutische Ausbildung dringend akademisiert werden.

Eine wesentliche Herausforderung wird zudem sein, die psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlungsstrukturen im stationären, ambulanten und im Reha-Bereich besser aufeinander abzustimmen und intensiver zusammenzuarbeiten. Es braucht auch eine engere Vernetzung mit den Allgemeinmedizinern. Eine weitere Grundvoraussetzung ist der Zugang zu leistbarer psychotherapeutischer Behandlung in einem angemessenen Zeitraum – ohne monatelange Wartezeiten."


Arschang Valipour: "Die Wissenschaft hat ihre Leistungsfähigkeit unter Beweis gestellt."

Arschang Valipour ist Leiter der Abteilung Innere Medizin und Pneumologie der Klinik Floridsdorf des Wiener Gesundheitsverbunds.
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"Während der Covid-Pandemie hat die weltweite Wissenschaftsgemeinschaft ihre Innovationskraft und Agilität bewiesen. Binnen kurzer Zeit haben Forscherinnen und Forscher wirksame Impfstoffe gegen ein neues und leider sehr impactstarkes Virus entwickelt. Die pharmazeutische Forschung hat mittlerweile auch Therapeutika bereitgestellt, die wir Medizinerinnen und Mediziner als sehr wirkungsvolle Waffen zur Bekämpfung des Erregers einsetzen können. Die Wissenschaft hat damit entgegen einem allgemeinen gesellschaftlichen Trend zur Wissenschaftsskepsis ihre Leistungsfähigkeit unter Beweis gestellt. Ich hoffe, dass die Menschen das in Zukunft wieder stärker schätzen. Was mir persönlich fehlt, ist eine starke Digitalisierung und gute Vernetzung von Gesundheitsdaten. Ich arbeite mit meinem Team in einem topmodernen und mit bester Medizintechnik ausgestatteten Spital. Das wünsche ich allen Kollegen."


Ulrike Famira-Mühlberger: "Die Nachfrage nach professioneller Pflege wird steigen."

Ulrike Famira-Mühlberger ist Ökonomin am Wifo und war Mitglied der Pflege-Taskforce des Sozialministeriums.
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"In den kommenden Jahrzehnten wird sich die Anzahl der alten Menschen in Österreich sowohl absolut als auch relativ zu jüngeren Menschen stark erhöhen. Die Nachfrage nach professioneller Pflege wird aber auch deshalb steigen, weil das Pflegepotenzial von Angehörigen stark zurückgehen wird (auch aufgrund von höherer Bildung und damit einer stärkeren Arbeitsmarktbeteiligung von Frauen oder geringerer Reproduktion). Dementsprechend hoch wird die Nachfrage nach Pflegekräften sein. Bereits jetzt gibt es akuten Personalbedarf. Wegen der demografischen Entwicklung ist eine längerfristige politische Planung notwendig. Der "Nachfrageschock" der "Babyboomer-Generation" muss rechtzeitig politisch gestaltet werden, um die Abgabenbelastung künftiger Generationen und der jetzt Jüngeren in den Jahren zu begrenzen, in denen geburtenstarke Jahrgänge das pflegebedürftige Alter erreichen."


Erich Neuwirth: "Sauber erhobene Daten sollten die Grundlage der Entscheidungen sein."

Erich Neuwirth ist außerordentlicher Universitätsprofessor für Statistik und Informatik an der Universität Wien.
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"Die Covid-19-Pandemie hat gezeigt, dass es um die Datenlage rund um epidemisches und pandemisches Geschehen äußerst schlecht bestellt ist. Sauber erhobene Daten und verständlich aufbereitete Analysen sollten aber die Grundlage rationaler gesundheitspolitischer Entscheidungen sein. Trotzdem gibt es nach mehr als zwei Jahren zum Beispiel immer noch keine regelmäßig publizierten, leicht öffentlich zugänglichen Daten über den Impfstatus der Covid-Spitalspatienten. Ebenso gibt es keine Daten, wie viele Patienten mit einer solchen Diagnose ins Spital aufgenommen wurden. Wir kennen tägliche Belagszahlen, nicht aber die Zu- und Abgänge.

Diese Beispiele zeigen, dass auf der Ebene der Gesundheitspolitikerinnen und Gesundheitspolitiker die Bedeutung solider statistischer Daten und Auswertungen noch immer nicht ausreichend verstanden und gewürdigt wird." (Oona Kroisleitner, CURE, 30.8.2022)