Regisseurin Barbara Frey sieht das Theater nicht gefährdet: "Jetzt ist ja Netflix in einer großen Krise. So schnell kann es also gehen."

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Am Burgtheater zu arbeiten hat Regisseurin Barbara Frey positive Resonanz beschert. So gab es für ihre Version von Automatenbüffet einen Nestroy-Preis und die Einladung zum Berliner Theatertreffen. Dies wird natürlich nicht der Hauptgrund dafür sein, dass sie als Intendantin der Ruhrtriennale auf Koproduktionen mit dem Burgtheater setzt. Es geht wohl auch um ökonomischen Pragmatismus, wenn am Samstag in Bochum ihre Version von Schnitzlers Das weite Land Premiere hat, um später im Akademietheater (ab 2. September) zu landen.

STANDARD: Wenn Sie den Schnitzler, salopp gesagt, nicht verbocken, wird er in Wien gewiss gestürmt. Warum wollen Menschen immer das sehen, was ihnen vertraut ist?

Frey: Man sehnt sich wohl danach, dass etwas immer gleich bleibt. Man sucht aber auch etwas, auf das man sich rückbeziehen kann, weil sich vieles dauernd ändert. Diese Sehnsucht kann etwas merkwürdig Theologisches haben, Gott scheint ja leider tot zu sein. Es gibt auch in der Liebe zur Kunst die Sehnsucht nach dem Unverbrüchlichen, dass Gott oder eine Göttin nicht tot ist. Von daher habe ich großes Verständnis für dieses Verlangen nach dem Bekannten, solange das Unbekannte darin schlummern darf. Mich interessieren natürlich Autoren und Autorinnen, die etwas Veränderliches in ihrem Werk haben. In den vermeintlich vergangenen Stoffen meine ich etwas zu finden, was wie ein ferner Spiegel ist.

STANDARD: Gesellschaftliche Probleme werden bei Schnitzler stets von männlichen Sichtweisen geleitet. Haben Sie damit eine Schwierigkeit?

Frey: Das fällt mir natürlich auf. Mir macht das erst mal keine Angst. Die Grundfrage ist: Interessiert mich ein Text oder nicht? Erst in zweiter Instanz frage ich mich, welche Perspektive kommt genau vor. Schnitzlers extrem männliche Perspektive interessiert mich nur bedingt. Dass unsere Welt gerade jetzt wieder noch sehr männlich geprägt ist, ist ein Fakt. Aber zugleich frage ich: Sind diese Frauen tatsächlich so zudienend, oder sind sie nicht doch autonom? Eigentlich ist Das weite Land ja ein Stück über Paranoia. Dass ein Mann im Zentrum steht, ist gar nicht so unzeitgemäß – bei all den Paranoikern, die heute frei rumlaufen.

STANDARD: Was ist an diesem Paranoia-Moment das Zeitgenössische?

Frey: Es ist eine Paranoia, die sich nährt aus einer Argwohn- und Misstrauen-gesättigten Gesellschaft und sich auch noch verselbstständigt. Ganz ähnlich unserer Paranoia nach zwei Jahren Pandemie, die uns wohl mehr zugesetzt hat, als wir wahrhaben wollen. In alles hat sich der Verdacht geschlichen, oben drauf kommen ein Krieg und im Hintergrund eine Klimakatastrophe. Mehr geht bald nicht mehr, die Leute werden noch argwöhnischer, als sie schon waren. Sie machen die Türen zu, sitzen zu Hause, haben Angst. Ein wichtiger Aspekt bei Schnitzler: Die Männer haben Angst. Das macht die Frauen interessant, da die Männer nicht halb so stark sind, wie sie tun. Ich denke auch an Leutnant Gustl, diese Hasenfußpsyche! Diese Spirale von Paranoia und besitzergreifendem Verhalten ist stark bei Schnitzler und ganz stark in unserer Zeit. Auch die Abwesenheit von Freundschaften ist auffallend, es gibt nur Allianzen.

STANDARD: Schnitzler ist Österreich-Kanon. Wie beobachten Sie die Kanon-Diskussion?

Frey: Ich kann auf dieser allgemeinen Ebene nicht viel dazu sagen. Ich finde viele Ansätze superklug und denke: Ja, stimmt, manches mag "verstaubt" wirken, aber ich will jetzt nicht alles aufgeben. Die Position, sich gegen das Weitertragen von rassistischen, kolonialistischen oder sexistischen Inhalten zu wehren, erscheint mit aber vollständig berechtigt. Man liest auch Stoffe als Frau ganz anders.

STANDARD: Sie waren zehn Jahre lang Intendantin in Zürich, leiten nun die Ruhrtriennale und haben wohl auch mit Publikumszahlen zu tun. Wie soll das Theater in Zeiten des Publikumsschwunds interessant bleiben?

Frey: Ich glaube, dass das Theater eine sehr robuste Kunst ist. Sie ist fast zweieinhalbtausend Jahre alt. Es liegt so viel Freiheit im Theater, so viele Ästhetiken und Denkweisen sind möglich. Wenn man ihm das lässt, findet das Theater immer wieder zurück zu etwas "Relevantem". Was dem Theater nicht guttut, ist die mangelnde Neugierde. Wenn ein Publikum faul wird, dann schadet das auch der Musik oder der bildenden Kunst. Es ist an uns, die Neugierde nicht zu verlieren, über die Landesgrenzen hinweg. Wir haben so viele Möglichkeiten und sollten sie nutzen. Wir müssen einander besser zuhören. Ich halte die Entgleisungen in der modernen Kommunikation absolut mitverantwortlich für die mangelnde Neugier. Vielleicht ist es Ausdruck einer Zivilisationsmüdigkeit, dass man in allem eine Krise sieht. Schon drei Wochen nach Pandemiebeginn wurde ja das postpandemische Theater ausgerufen.

STANDARD: Vielleicht holt sich ja das Theater die Erzählweisen, mit denen Netflix alles abräumt, wieder zurück?

Frey: Das gefällt mir. Ich sage auch immer, Netflix hat sich ja die aristotelischen Dramaturgien vom Theater genommen. Jetzt ist ja Netflix in einer großen Krise. So schnell kann’s also gehen.

STANDARD: Worum geht es Ihnen beim Regieführen: die Natur des Menschen zu ergründen?

Frey: Kürzlich sprach ich mit einer Mathematikprofessorin, von deren beiden Söhnen der eine als Physiker und der andere am Theater arbeitetet. Ich meinte, das sei ja dann ein weites Spektrum. Und sie antwortete, na ja, beidem liege ja zugrunde, dass man etwas verstehen möchte. – Genau! Das Nichtwissen ist auch am Theater die Voraussetzung. (Margarete Affenzeller, 19.8.2022)