"Charlie Hebdo" zu den Wunden: "Endlich läuft er inkognito herum."

Foto: Charlie Hebdo

Das Gröbste hat er wohl hinter sich, neue Informationen über den Gesundheitszustand Salman Rushdies nach dem Messerangriff vor einer Woche sind aber Mangelware. Indes wurde der Attentäter offiziell angeklagt. Und in New York wie Berlin finden dieser Tage Solidaritätslesungen statt: Kolleginnen und Kollegen treten für freie Rede und gegen Gewalt auf.

Die Geschichte von Rushdie und seinen Satanischen Versen, dem Ursprung islamistischer Gewalt gegen ihn, ist seit deren Erscheinen 1988 auch eine von Solidarität und Angst.

Die deutsche Übersetzung 1989 benötigte etwa eine beispiellose Allianz. Kiepenheuer & Witsch hatte die Rechte gekauft, doch die Fatwa und Angriffe gegen Verlage, Übersetzer und Buchhandlungen in vielen Ländern ließen den Verlag seine Pläne stoppen. "Unser Gebäude ist von da an für einige Jahre beschützt worden von permanenten Polizeieskorten, die Bäume wurden mit Gittern umgeben, damit sich keine Schützen darin verstecken", erinnert sich Helge Malchow, damals Chef von KiWi, in der Süddeutschen Zeitung an die Zeit. Auch die Übersetzerin wollte nicht weiterarbeiten.

Erste Erfahrung mit Drohungen

Es war die erste Erfahrung der deutschsprachigen, ja westlichen Verlagswelt mit derartigen Drohungen. Angst und das Ideal freier Meinungsäußerung rangen miteinander, schließlich schlossen sich rund 100 deutsche Häuser zum Verlag "Artikel 19" zusammen, der den Roman herausgab. Rushdie war mit der Lösung, erinnert sich Malchow, nicht glücklich: Er sah sich nicht so klar unterstützt, wie er es wollte.

Heute ist die Solidarität wieder groß. Autorin Margaret Atwood rief auf, hinter Rushdie zu stehen. Auch Ayad Akhtar bezog nebst vielen anderen Autoren Stellung. Doch nicht nur die New York Times ortet in literarischen Zirkeln "Zurückhaltung, die Kräfte zu benennen", die Rushdie "ins Visier genommen" hätten.

Der Grund? Kenan Malik, Verfasser eines Buchs über die Fatwa gegen Rushdie, mutmaßte im britischen Guardian, heute fürchteten zu viele, "Anstoß zu erregen". Sie würden meinen, pluralistische Gesellschaften funktionierten über Selbstzensur, und indem keine fremden Gefühle verletzt würden. Dabei sei gerade in jenen die freie Rede wichtig.

"Neue Moral der Literatur"

Der französische Autor Marc Weitzmann spricht generell von einer "neuen Moral der Literatur", die sich aus schlechtem Gewissen und missverstandenem Antirassismus nähre. Die Macher des Satiremagazins Charlie Hebdo vermuten gar, die Satanischen Verse würden heute nicht mehr veröffentlicht. Es geht aber nicht nur um politischen Islam. Andere Autoren bekritteln, das derzeitige zu Cancel-Culture neigende kulturelle Klima und in Verlage einziehende Sensitivity-Reader, die Texte auf verletzende Stereotype prüfen, hielten (junge) Autoren davon ab, über gewisse Stoffe und auf gewisse Weisen zu schreiben.

Was muss man daraus über die Rolle von Autorinnen als intellektuelle Kräfte ableiten? Einerseits: Die Angst, boykottiert oder angegriffen zu werden, scheint präsenter als früher. Andererseits: Man mag schwerer Solidarität bekunden, wenn man nicht wie etwa Politiker von Sicherheitsleuten umgeben ist. Ihm sei trotz Leibwächtern von Freunden in muslimischen Ländern abgeraten worden, sich zu äußern, schrieb Orhan Pamuk in der Zeit. (Michael Wurmitzer, 20.8.2022)