Europas Staaten sollten in Verteidigungsfragen auf mehr Zusammenarbeit als bisher setzen, schreiben Ian Bond und Luigi Scazzieri vom Centre for European Reform in London in ihrem Gastkommentar – stelle doch Russland "eine langfristige Bedrohung für die europäische Sicherheit dar".

Der Einmarsch Russlands in die Ukraine im Februar war ein Wendepunkt für die europäische Sicherheit. Die Beziehungen zwischen der Nato und der Europäischen Union sind jedoch nach wie vor von gegenseitigem Misstrauen, institutioneller Rivalität und einem Mangel an effektiver Zusammenarbeit geprägt. Die beiden Organisationen müssen ihre Differenzen beiseitelegen und zusammenarbeiten.

Russland stellt einmal mehr eine langfristige Bedrohung für die europäische Sicherheit dar. Gleichzeitig werden die wirtschaftlichen Auswirkungen des Krieges in der Ukraine die Sicherheitsherausforderungen an der Südflanke Europas verstärken. Und wie die aktuelle Krise um Taiwan zeigt, wird das zunehmende Selbstbewusstsein Chinas in den strategischen Überlegungen der USA immer mehr in den Vordergrund rücken.

Mehr Geld fürs Heer? Der Angriffskrieg Russlands zwingt Europas Staaten, ihre Verteidigungspolitik zu überdenken.
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Die zentrale sicherheitspolitische Herausforderung für Europa wird in den kommenden Jahren darin bestehen, die Abschreckung gegenüber Russland zu verstärken und gleichzeitig die Fähigkeit zu bewahren, anderen Bedrohungen entgegenzutreten. Wenn es um die Abschreckung Russlands geht, ist die Nato eindeutig die unverzichtbare Organisation, denn zu ihrer integrierten Kommandostruktur gibt es keine brauchbare Alternative. Der Krieg in der Ukraine hat die Kernaufgabe der Nato, Russland die Stirn zu bieten und das Hoheitsgebiet ihrer Mitglieder zu verteidigen, wenn die Abschreckung versagt, wieder gestärkt. Nach den neuen Verteidigungsplänen wird die schnelle Eingreiftruppe der Nato von 40.000 auf 300.000 Mann aufgestockt. Zudem werden Finnland und Schweden bald Mitglied werden.

"Der größte potenzielle Beitrag der EU zur europäischen Sicherheit liegt jedoch in ihrer Fähigkeit, die Mitgliedsstaaten zu höheren Verteidigungsausgaben anzuspornen."

Die Abschreckungskraft der Nato wird durch die in Europa stationierten US-Streitkräfte – die seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine um rund 20.000 auf über 100.000 Mann aufgestockt wurden – und durch das amerikanische Atomwaffenarsenal gestützt. Die Europäer können jedoch nicht erwarten, dass die USA für immer den Großteil ihrer Verteidigung schultern werden. Schon vor der Präsidentschaft von Donald Trump wurden die Klagen der USA über die ungerechte Lastenverteilung immer lauter und häufiger. Amerikas verstärkte Konzentration auf Asien bedeutet, dass der Beitrag der USA zur europäischen Verteidigung mit der Zeit wahrscheinlich schrumpfen wird. Und die Europäer können nicht ausschließen, dass Trump oder ein anderer Vertreter seiner isolationistischen "America First"-Gesinnung im Jahr 2025 Präsident wird und das Engagement der USA in der Nato aufkündigt.

Die Europäer haben also kaum eine andere Wahl, als mehr zu ihrer eigenen Verteidigung beizutragen. Seit Beginn des Ukraine-Konflikts haben die EU-Länder zusätzliche Militärausgaben in Höhe von 200 Milliarden Euro angekündigt. Doch für viele Länder könnte die Umsetzung dieser Zusagen angesichts des wirtschaftlichen Abschwungs und konkurrierender Haushaltsforderungen politisch schwierig werden.

Wenig Zusammenarbeit

Darüber hinaus hängen die Auswirkungen der zusätzlichen Verteidigungsausgaben von einem Gesamtplan zur Bestimmung der benötigten Waffensysteme, Logistik und Munition ab. Die Organisation der europäischen Verteidigungsausgaben ist jedoch nach wie vor unkoordiniert, und die zwischenstaatliche Zusammenarbeit ist gering. Nach Angaben der Europäischen Verteidigungsagentur machen gemeinsame Forschung und Entwicklung derzeit nur sechs Prozent der gesamten Forschung und Entwicklung im Verteidigungsbereich der EU aus, und die gemeinsame Beschaffung macht nur elf Prozent der gesamten Ausrüstungsaufträge aus.

Bei der Stärkung der europäischen Sicherheit muss die EU eine Schlüsselrolle in einer Weise spielen, die die Bemühungen der Nato ergänzt. Zunächst einmal muss die Union den Mitgliedsstaaten helfen, die wirtschaftlichen Folgen des Krieges in der Ukraine zu bewältigen – und so dazu beitragen, einen politischen Konsens für Sanktionen gegen Russland aufrechtzuerhalten.

Die EU kann ferner dazu beitragen, die europäischen Streitkräfte besser auf Konflikte vorzubereiten. Der Plan, eine 5.000 Mann starke schnelle Eingreiftruppe aufzustellen, würde die Streitkräfte der Mitgliedsstaaten dazu bringen, enger zusammenzuarbeiten – und so zu ihrer allgemeinen Fähigkeit beitragen, Bedrohungen abzuschrecken. Und die EU ist besser als die Nato in der Lage, Sicherheitsherausforderungen wie Desinformation und Wahlbeeinflussung zu begegnen, denn über die Union regulieren die Mitgliedsstaaten die Technologieplattformen, über die sich Fehlinformationen verbreiten.

Anreize schaffen

Der größte potenzielle Beitrag der EU zur europäischen Sicherheit liegt jedoch in ihrer Fähigkeit, die Mitgliedsstaaten zu höheren Verteidigungsausgaben anzuspornen. Die Steuervorschriften der EU können dazu beitragen, indem sie Verteidigungsinvestitionen von den Haushaltsdefizitgrenzen ausschließen, so wie es seit Beginn der Pandemie mit Investitionen in die grüne und digitale Transformation gemacht wird. Darüber hinaus kann die Union Anreize schaffen, um gemeinsame Beschaffungen und eine engere Zusammenarbeit zwischen den nationalen Streitkräften zu fördern.

Jüngste Vorschläge der Europäischen Kommission, insbesondere eine Mehrwertsteuerbefreiung für die gemeinsame Beschaffung von Verteidigungsgütern, könnten zu erheblichen Fortschritten bei den Verteidigungsausgaben, der Koordinierung und den Bemühungen zur Stärkung der europäischen Militärkapazitäten führen. Den europäischen Ländern fehlt es jedoch an einer wirklich kooperativen Denkweise, wenn es um die Entwicklung, den Erwerb und den Betrieb von Verteidigungsfähigkeiten geht. Die Entwicklung eines solchen Ansatzes erfordert eine stärkere politische Führung durch die nationalen Entscheidungsträger.

Europäische Werte

Die EU und andere Nato-Mitglieder sollten sicherstellen, dass ihre nationalen Verteidigungsmärkte so offen wie möglich sind, um Größenvorteile zu gewährleisten. Die Versuche der EU, die militärischen Fähigkeiten zu verbessern, sollten von dem Grundsatz der Maximierung der Effektivität geleitet sein und die langjährigen Beziehungen zwischen EU-Rüstungsunternehmen und ihren Nicht-EU-Partnern nicht unnötig beschädigen.

Die USA sollten ihrerseits weiterhin ihre Unterstützung für eine stärkere Rolle der EU in der europäischen Sicherheit und Verteidigung, insbesondere bei der Entwicklung der militärischen Fähigkeiten des Blocks, deutlich machen. Gleichzeitig können die politischen Entscheidungsträger der USA die Ausarbeitung von EU-Initiativen so beeinflussen, dass Doppelarbeit vermieden und die europäische Sicherheit gestärkt wird.

Der Angriffskrieg des russischen Präsidenten Wladimir Putin gegen die Ukraine hat gezeigt, dass die Verteidigung der europäischen Werte und Interessen eine Frage von Leben und Tod ist. Europa kann es sich nicht länger leisten, quasi-theologische Argumente über die Vorrangstellung der EU und der Nato wichtiger zu nehmen als seine eigene Sicherheit. (Ian Bond, Luigi Scazzieri, Übersetzung: Andreas Hubig, Copyright: Project Syndicate, 24.8.2022)