Kann sich die Finger reiben: Kabarettistin Lisa Eckhart (29) verkauft ihre Bücher wie die warmen Semmeln.

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Paris, die Stadt der Liebe und Postkartenmotive. Beides hagelt es in Lisa Eckharts neuem Roman Boum auf den ersten Blick zuhauf. Ganz Frankreich ist in Aufregung wegen eines Serienmörders. "Le Maestro Massacreur" killt Straßenmusikanten. Einer trieb in der Seine, einer hing auf der Pyramide vor dem Louvre, einer am Eiffelturm, einer am Centre Pompidou. Die Musikalienhändler fiebern mit: Das jeweilige Instrument bricht sogleich Verkaufsrekorde. Wer sollte als Nächster dran sein? Der Flötist, von dessen Massakrierung Aloisia zufällig Augenzeugin wird? Dem das Instrument, in Stücke zerbrochen, wie ein Häufchen Ausscheidungen unter dem nackten Hintern drapiert wird, als hätte er es "geschissen"?

Aloisia ist die steirische Landpomeranze im Maturantinnenalter, die im Zentrum des Romans steht. Nach Paris gekommen ist sie ohne großen Plan, aber mit von Liebe zu Romain erfülltem Herzen.

Geschichten der Kehrseite

Auf den zweiten Blick widmet sich die 29-jährige, wegen ihrer Feier der politischen Inkorrektheit berüchtigte Kabarettistin aber den jeweiligen Kehrseiten. Bald ist Schluss mit Sehenswürdigkeiten. Stattdessen führt Boum in die Unterwelt einer verwunschenen Clochard-Bande, in eine zuhälterische Agentur für Model- und Hostessenservices und, dorthin werden die "Grazien" unter anderem vermittelt, auf den Pariser Autosalon.

Und Romain? Ist doppelt so alt wie Aloisia und verführt in einer stinkenden Tierhandlung nebenbei unzählige Frauen. Kennengelernt hat Aloisia ihn in einem Club, wo Romain üblicherweise mit K.-o.-Tropfen ausgeknockte Frauen abschleppt. Ihr ist klar, dass es ihm nur um Sex geht, aber sie will sich beim Widersprechen mit ihrem schlechten Französisch nicht blamieren. Zwar entwickelt sich tatsächlich zeitweilig eine Liebesgeschichte. In Boum klingt das aber so: "Aloisia auf jeden Fall braucht seinen Schweif nur anzufassen und ihr läuft das Wasser im Schoß zusammen."

Provokation ist Kernkompetenz Eckharts. Jungem und wokem Publikum ist sie deshalb vielfach ein Graus, die Das-wird-man-ja-wohl-noch-sagen-dürfen-Fraktion vergöttert die Frau mit dem blonden Haar, den extravaganten Outfits und der angestrengten Artikulation.

Beschreiben statt Erzählen

Letztere wird Eckhart auch schreibend nicht los. Betulich künstlerische Vokabeln ("jählings") säumen die Geschichte, die vor lauter Beschreiben oft gar nicht zum Erzählen kommt, weil sie im Ausschmücken stecken bleibt. Dann schickt Eckhart der Darlegung eines Sachverhalts noch zwei, drei Sätze nach, die gerne wären wie jene Elfriede Jelineks, wenn diese zwischen konkreten und metaphorischen Wortbedeutungen wie in einem Vexierbild hin- und herspringen oder Begriffe allzu wörtlich nehmen, bis sie neue Sichtweisen generieren. Aber hier entlarven Spielereien selten die Verhältnisse, eher wiederholen sie müde Klischees. Statt Erkenntnis warten Kalauer.

Eine Pointe jagt die andere, das war schon in Omama so, Eckharts vor zwei Jahren erschienenem erstem Roman, der mit der 13-jährigen Helga im Zweiten Weltkrieg einsetzt und deren Leben bis ins Heute erzählt. Er atmete die Folklore stumpfer österreichischer Mentalität.

Selbstgespräche beim Sex

Weniger Comedyprogramm in Buchform sollte der zweite Versuch sein. Aber wenn jede Möglichkeit zum Wortspiel, zum Witz ergriffen wird, dann zerreißt das selbst die stärkste Story. Die es hier nicht gibt:

Bald hat Aloisia Romain satt und zieht heimlich in die winzige Wohnung gegenüber, von der aus sie ihn nicht nur beobachtet. Heimlich kommt sie auch zum Essen und Duschen vorbei. Um Geld zu sparen. Dabei hätte sie das nicht mehr nötig. Zur gefragten Prostituierten macht die "kleine Autrichienne", dass die beim Sex gern Selbstgespräche führenden Freier glauben, sie verstehe kein Französisch.

Ein käuflichem Oralsex als Nachdenkhilfe zugetaner Kommissar und ein Terrorexperte ("Monsieur Boum") ermitteln derweil.

"Eine klassische Karikatur"

Boum ist das Monument der Déformation professionelle einer Kabarettistin. Der Dialog mit einem Straßenkünstler illustriert das Dilemma geradezu: "Sagten Sie nicht, Ihr Stil sei klassisch?" – "Ist er das etwa nicht? Eine klassische Karikatur!"

Ja, unter diesen gibt es geglückte. "In jedem Touristen steckt auch ein Spanner", lautet so ein Beispiel. "Seine Freiheiten darf sie ihn kosten. Nicht aber seien Unfreiheiten. Seine Routinen, Ticks und Zwänge", ein anderes über die Zulassungsbedingungen der Liebe. Eine hübsche Einlassung doziert über die Unterschiede von Serienkillern, Massenmördern und Terroristen.

Der zu entrichtende Preis für Eckharts satirischen Kampf gegen jede moralische Bevormundung? Alles ist Knetmasse, nichts Anliegen. Man vermisst Sympathie und Empathie. Im Vorbeigehen wird über MeToo, Selbstverletzung bei Teenagern, Gendervielfalt gespaßt; Wörter wie "Krüppel" streut Eckhart inflationär ein. Soll so sein dürfen. Seite um Seite wächst aber der Eindruck einer langweiligen Selbstgenügsamkeit allzu erprobter Posen. (Michael Wurmitzer, 26.8.2022)