Niemand weiß, wann und wie der von Wladimir Putin vor sechs Monaten entfachte Vernichtungskrieg gegen die Ukraine enden wird, aber sein Verlauf bestätigt die Feststellung von Carl von Clausewitz, dem berühmtesten Theoretiker des Krieges zu Beginn des 19. Jahrhunderts: "Drei Viertel derjenigen Dinge, worauf das Handeln im Kriege gebaut wird, liegen im Nebel einer mehr oder wenigen großen Ungewissheit." Zu diesen Unwägbarkeiten gehört die von keinem Experten erwartete Widerstandskraft der Ukrainer. Am meisten unterschätzt wurde vom russischen Diktator die Kampfmoral der Armee und der Zivilgesellschaft in dem überfallenen Land.

Solidaritätsbekundung für die Ukraine vor dem Weißen Haus in Washington.
Foto: AP Photo/Jose Luis Magana

Aus dem erwarteten Blitzkrieg wurde ein ermüdender Stellungskrieg mit (nach US-Schätzungen) 80.000 getöteten oder verwundeten Russen. Wegen seines Lügengeflechtes einer "militärischen Spezialoperation" kann Putin keine Generalmobilmachung anordnen, und nach glaubwürdigen Berichten wird mit Geld und versprochenem Straferlass sogar in Untersuchungsgefängnissen und Straflagern um Rekruten geworben. Dass die Ukrainer dem übermächtigen russischen Aggressor noch immer standhalten, wäre freilich ohne die militärische, wirtschaftliche und moralische Unterstützung des Westens, vor allem der Vereinigten Staaten, nicht möglich gewesen.

Desinformationskampagne

Wir müssen uns also auf einen langen Konflikt einstellen. Es geht nicht nur um die Freiheit und Unabhängigkeit der Ukraine, sondern um die Zukunft des freien Europa. Das Putin-Regime erpresst die Europäer nicht nur mit Energielieferungen und der Drohung einer Atomkatastrophe um das von russischen Soldaten besetzte Kernkraftwerk Saporischschja, sondern versucht auch durch eine Desinformationskampagne die Solidarität mit der Ukraine zu untergraben. Die Frage, ob die um ihre soziale Sicherheit bangenden Menschen auf die Propaganda des Kremls und von dessen Verbündeten hereinfallen, hängt von der Stärke der unabhängigen Medien, aber auch von der Führungskompetenz und Integrität der Regierenden in den EU-Staaten ab. Jene Politiker, für die "Realpolitik" als Beschönigung für Opportunismus gilt und die letzte Umfrage ihre Stellungnahme bestimmt, sind noch immer bereit, die Ukraine genauso zu übergehen wie in den letzten 20 Jahren.

Der mutige russische Oppositionspolitiker Ilja Jaschin, dem zehn Jahre Gefängnis wegen der angeblichen "Verbreitung von Falschnachrichten über die Armee" drohen, hat in einem bemerkenswerten Interview (Süddeutsche, 26. 8.) die Hilfe des Auslands für die russische Opposition mit dem Schicksal der Ukraine verbunden: "Der Westen sollte sich darauf konzentrieren, die Ukraine zu retten. Wenn die Ukraine durchhält und nach dem Krieg zu einem Schaufenster der Demokratie im postsowjetischen Raum wird, versetzt dies der Kreml-Junta den mächtigsten Schlag. Die Formel ist also einfach: Wenn Sie Russland helfen wollen, retten Sie die Ukraine. Und bitte identifizieren Sie Russland nicht mit Putin."

Zu Recht betonte Jaschin, dass in Russland eine Polizeidiktatur herrsche, und man sollte von der eingeschüchterten Gesellschaft, keine Heldentaten erwarten. Trotzdem ist Jaschin nicht allein, und die Zustimmungswerte für Putin sinken unaufhaltsam. (Paul Lendvai, 30.8.2022)