Das gemeinsame Europa darf hoffen. Der deutsche Kanzler Olaf Scholz hat eine Grundsatzrede zur Erneuerung der Europäischen Union gehalten, in der er nicht nur Reformen, sondern auch eine "Zeitenwende für Europa" forderte. Die EU müsse handlungsfähiger werden, im Inneren wie auch in ihrer Rolle auf globaler Ebene. Die Union und ihre 27 Staaten sollten gemeinsam einfach mehr an "Souveränität" gewinnen.

Der deutsche Kanzler Olaf Scholz hat in Prag eine Grundsatzrede zur Erneuerung der Europäischen Union gehalten.
Foto: IMAGO/CTK Photo/Michal Kamaryt

Das waren große Worte, wie sie Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron bei Vorstößen für eine "Renaissance" der EU seit Jahren gerne verwendet. Echte "europäische Souveränität", die uns in die Lage versetzt, beim Klimaschutz, bei den Menschenrechten, in der Sicherheitspolitik im Konzert der Weltmächte mitzuspielen, das wäre so ganz nach seinem Geschmack. Das hat Macron bereits vor fünf Jahren bei einer Rede an der Sorbonne-Universität in Paris verlangt.

Beim deutschen Kanzler klangen die Ausführungen bescheidener, weniger visionär. Und: Als Ort für seine "Zeitenwende"-Rede, die an die Bundestagsrede zur Begründung der gewaltigen Aufstockung des deutschen Militäretats im Frühjahr erinnerte, wählte er die Karls-Universität in Prag, eine der ältesten Hochschulen des Kontinents; die Hauptstadt Tschechiens, das derzeit den EU-Vorsitz führt.

Schrittweises Fortkommen,

Das alles sollte wohl zeigen, dass Deutschland es ab nun ernst meine mit der Absicht, im gemeinsamen Europa etwas weiterzubringen, und dass Berlin dabei zwar aktiv werden, aber es doch etwas bescheidener angehen will. Scholzens Vorgängerin Angela Merkel hatte die Reformanstöße aus Paris zehn Jahre lang weitgehend ins Leere laufen lassen.

Der Kanzler zielt nicht auf eine große Vision, einen großen Wurf mit einer neuen EU-Verfassung ab, wie Macron das tat. Er setzt auf schrittweises Fortkommen, wie die EU das seit Gründungstagen nach der "Methode Jean Monnet" praktiziert. So sei es etwa nötig, das Einstimmigkeitsprinzip in der Außen- und Sicherheitspolitik abzuschaffen, weil Vetos oft den Erfolg verhindern. Noch am weitreichendsten war seine Forderung, die EU sollte eine gemeinsame Luftverteidigung aufbauen, eine EU-Kommandozentrale in Brüssel.

Die Zurückhaltung ist nobel. Aber entscheidend wäre, dass Deutschland, das reichste Land der EU, sich endlich bewegt, am besten im Schulterschluss mit Frankreich die EU-Erneuerung vorantreibt. Berlin muss eben auch führen wollen, bei Krieg und Krise muss man aus der Defensive herauskommen. (Thomas Mayer, 31.8.2022)