Wer immer bisher daran zweifelte, dass Wladimir Putin den Gashahn als wirtschaftspolitische Waffe gegen Europa einsetzt, ist am Samstag eines Besseren belehrt worden. Für die zeitlich unbegrenzte Sperre der Pipeline Nord Stream 1 gibt es keine glaubwürdige technische Begründung; der Kreml versucht, der Wirtschaft in Europa den größtmöglichen Schaden zuzufügen, um die Solidarität der Bevölkerung mit der Ukraine zu untergraben und so die Regierungen zu zwingen, die Unterstützung für Kiew zu beenden.

Mit der Sperre der Pipeline Nord Stream 1 versucht der Kreml der Wirtschaft in Europa den größtmöglichen Schaden zuzufügen.
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Zumindest kurzfristig zeigt die Strategie Erfolge: Die Explosion beim Gaspreis treibt auch den Strompreis in die Höhe, belastet die Haushalte in ganz Europa schwer und zwingt bereits Betriebe, ihre Produktion zu drosseln. Es droht der europäischen Wirtschaft jene Doppelmühle, die seit den 1970er-Jahren als Schreckensszenario gilt: die Stagflation, wenn zur Inflation eine Rezession dazukommt. Die Finanzmärkte nehmen dies vorweg, der Euro und die Aktienmärkte stürzen ab. Immer lauter werden die Stimmen, die die Sanktionen infrage stellen.

Dass Putin diesen Wirtschaftskrieg mit voller Härte führt, ist nachvollziehbar. Schließlich sind auch die Sanktionen gegen Russland eine Form der Kriegsführung. Ihre bisherige Wirkung ist umstritten; Russlands Wirtschaft und Kriegsmaschinerie laufen weiter, Experten gehen allerdings davon aus, dass beides spätestens im nächsten Jahr ins Stocken geraten wird.

Aber im Augenblick kann Putin so tun, als wären allein die Europäer die Geschädigten; seine eigene Position sei so stark, dass er dank der gestiegenen Einnahmen aus Öl- und Gasexporten auf das Geschäft mit der EU ganz verzichten könne. Der Gasboykott, vor dem in Deutschland und Österreich einst so scharf gewarnt wurde, wird weitgehend Realität – wenn auch ungewollt. Die deutsche Regierung zieht daraus die logische Konsequenz und verkündet, dass sie ab Dezember kein russisches Gas mehr kaufen wird – egal, was Putin tut.

Dramatische Folgen

Die Folgen dieses Wirtschaftskriegs in Europa verblassen gegenüber dem Leid in der Ukraine, aber sie sind dramatisch. Und es ist höchste Zeit, dass die politischen Spitzen in allen EU-Staaten dies erkennen und die Bevölkerung auf die Härten der kommenden Wochen und Monate einstimmen. Weder Milliardensubventionen noch Energiepreisbremsen werden die Probleme zum Verschwinden bringen. Nur ein gemeinsames Vorgehen, sowohl innerhalb der EU-Staaten als auch zwischen ihnen, kann die Folgen abfedern. Stärker als bisher muss die EU-Kommission führen – und die nationalen Regierungen müssen sich einer gemeinsamen EU-Strategie unterordnen, statt eigensinnig auszuscheren.

Zwei Botschaften an die Menschen sind jetzt notwendig: Europa muss diesen Kampf weiterführen, die Sanktionen beibehalten und wenn möglich noch verschärfen. Denn gelänge es Putin, die EU-Front zu brechen und das Ende der Sanktionen zu erreichen, dann würde sich die Union dem Willen eines brutalen Diktators ausliefern. Das darf nicht sein.

Und dieser Kampf kann gewonnen werden. Putin sorgt dafür, dass sich die Europäer schneller aus der Abhängigkeit von russischem Öl und Gas lösen, als es für möglich gehalten wurde. Und dann ist es Russland, das einen noch viel höheren Preis bezahlen wird – einen, der zumindest eine kleine Chance auf Frieden in der Ukraine eröffnet. (Eric Frey, 6.9.2022)