Im Gastkommentar tritt Medienexperte Golli Marboe für einen offeneren Umgang mit psychischer Gesundheit ein.

Ein Weg zu mehr Verständnis für psychische Gesundheit führt über die Sichtbarkeit von tatsächlich persönlich Erlebtem.
Foto: Heribert Corn/https://www.corn.at

Es ist richtig und wichtig, dass Rechtsradikale oder auch die sogenannten "besorgten Bürgerinnen" nach Hate-Speech-Attacken wie im Fall Lisa-Maria Kellermayr nun endlich – den Gesetzen entsprechend – verfolgt und ausfindig gemacht werden. Aber nur weil wir diese Personen namhaft machen, hat das unser Wissen und unser Verständnis von psychischer Gesundheit noch nicht besser gemacht.

Wenige Stunden vor seinem Suizid hat mein Sohn Tobias zu mir gesagt: "Papa, pass auf, dass niemand mehr so traurig wird, wie ich das geworden bin." Diese Traurigkeit, von der Tobias sprach, hat sich über Monate, vielleicht über Jahre entwickelt. Aus dieser kam dann die Depression und schließlich das letale Ende.

Dieser schreckliche Tod hat uns Hinterbliebene völlig unvorbereitet getroffen. So geht es vielen Betroffenen von Schicksalsschlägen. Aber warum eigentlich? Denn so traurig es sein mag: Im Laufe eines Lebens werden wir doch alle mit einer derartigen oder ähnlichen Katastrophen umgehen müssen.

Momente des Lebens

Wieso tun wir so, als ob wir immer unbelastet, gesund und fröhlich durchs Leben kommen würden? Die Realität zeigt, dass die Diagnose einer tödlichen Krankheit, eine Sucht, ungezügelte Gewalt, Missbrauch, ein psychotischer Schub oder vielleicht auch ein eigenartig anmutender Unfall beim Sport in jeder Familie irgendwann einmal vorkommt. Wieso bereiten wir uns auf solche Momente des Lebens nicht vor, obwohl leider fast jeder von uns solche einmal zu bewältigen hat? Warum lernen wir keinen anderen Umgang mit Trauer und Erinnerung an Verstorbene?

Warum aber vor allem hören, lesen, lernen wir nicht mehr über Fragen der psychischen Gesundheit? Denn dann würden wir uns dagegen wehren, dass wir Unsummen an Nachhilfestunden bezahlen, bei denen unsere Kinder genau das lernen müssen, wozu sie nicht begabt sind, statt die gleichen Mittel in die Stärkung ihrer Talente zu investieren. Dann würden wir uns dagegen wehren, dass unsere Daten in sozialen Netzen von internationalen Konzernen dafür verwendet werden, Wahlen zu manipulieren, statt dass wir sichere digitale Räume schaffen. Dann würden wir uns dagegen wehren, dass wir im kommerzialisierten Sport die Sieger zu Helden machen, statt die anderen Teilnehmerinnen genauso zu würdigen. Dann würden wir uns dagegen wehren, dass Frauen und Männer unterschiedlich bezahlt und damit unterschiedlich wertgeschätzt werden. Dann würden wir uns dagegen wehren, dass Lehrlinge, ein Drittel aller Jugendlichen, in der Öffentlichkeit kaum sichtbar sind – wer nicht sichtbar ist, ist auch nichts wert. Dann würden wir uns dagegen wehren, dass Menschen, die nichts erben, sich nicht einmal mehr einen Wohnbaukredit erarbeiten können – und für mehr Verteilungsgerechtigkeit sorgen. Und wir würden uns gegen all das wehren, was uns am Leben und an der Welt verzweifeln lässt – ohne aber einfach nur nach Schuldigen zu suchen, die wir dann an einen medialen Pranger stellen.

"Ein Weg zu mehr Verständnis für psychische Gesundheit führt über die Sichtbarkeit von tatsächlich persönlich Erlebtem."

Im Gegenteil: Statt vermeintliche oder tatsächliche Täter medial zu verurteilen – das ist nämlich Sache der Gerichte –, sollten wir die Berichte von "Erfahrungsexpertinnen" in die Öffentlichkeit tragen: Ein Weg zu mehr Verständnis für psychische Gesundheit führt über die Sichtbarkeit von tatsächlich persönlich Erlebtem. Zum Beispiel durch Schilderungen von Menschen, die psychische Krisen überwinden konnten, wie das der Verein Lichterkette und andere anbieten: Warum kam ich nicht aus dem Bett? Was heißt eigentlich Borderline? Warum konnte ich nicht um Hilfe bitten? Die präventive Wirkung von solchen Berichten der Überwindung von Krisen, der Papageno-Effekt wurde wissenschaftlich von der Med-Uni Wien nachgewiesen. Oder was den Umgang mit Trauer angeht, wenn zum Beispiel Hinterbliebene mit dem Verein Trees of Memory für Suizidopfer Erinnerungsbäume mitten in jenen Städten und Gemeinden pflanzen, wo die Verstorbenen vorher zu Hause waren.

Nur wenn wir neue gesellschaftliche Visionen im Sinne der bis zum Tod unperfekten, verletzlichen und verletzten Menschen entwickeln, nur dann wird es einen nachhaltigen Rückgang der psychischen Probleme, der Suizide und der Traurigkeit in unserer Gesellschaft geben.

Mehr Mental Health Literacy

Das mag viel verlangt sein. Und das soll die Notwendigkeit von Therapieplätzen nicht relativieren. Die Angebote für psychisch belastete Personen sind völlig unzureichend und die Zahlen der Personen, die solche Hilfe brauchen, bekanntlich katastrophal hoch. Aber neben der Behandlung dessen, was inzwischen alles schiefgegangen ist, brauchen wir Mental Health Literacy in einem sehr viel umfänglicheren Sinn: Schon in der Schule sollten wir den Umgang mit psychischen Problemen, mit Druck und Angst, mit Trauer und Wut genauso wie Lesen, Schreiben und Rechnen zum Thema machen. Und später anderen Idealen folgen, als "schöner, reicher und jünger" scheinen zu wollen. Nur wenn wir unseren gesellschaftlichen Alltag grundsätzlich ändern, können wir psychischen Problemen nachhaltig begegnen. (Golli Marboe, 8.9.2022)