Gehirngröße ist nicht alles – aber ein Hinweis. Waren Neandertaler (rechts im Vordergrund) dümmer als moderne Menschen?
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In den meisten Europäerinnen und Europäern steckt ein Stück Neandertaler: Bis zu vier Prozent des Genoms teilen wir mit dem ausgestorbenen Menschentypus, der so noch in gewisser Weise in uns weiterlebt. Warum dieser Anteil nicht größer ist, darüber rätselt die Wissenschaft schon seit langem – Fachleute versuchen, immer exakter die Unterschiede zwischen dem "klassischen" modernen Menschen und seinem "archaischen" Vetter herauszuarbeiten.

Erst kürzlich taten sich Forschende zweier Max-Planck-Institute auf diesem Gebiet hervor. Sie zeigten, dass Stammzellen, die für die Gehirnentwicklung wichtig sind, bei Neandertalern wohl fehleranfälliger waren, was die Zellteilung anging. Genauer handelt es sich dabei um neuronale Stammzellen, aus denen sich die Zellen des Neokortex entwickeln: einer Hirnregion, die für kognitive Fähigkeiten ausschlaggebend ist.

Durch Migration getrennt und wiedervereint

Nun liefern wiederum Expertinnen und Experten dieser Forschungseinrichtungen im Fachjournal "Science" ein bemerkenswertes Puzzlestück zur Klärung dieses Mysteriums. Federführend war dabei die Gruppe um Wieland Huttner vom Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik in Dresden, die mit dem Universitätsklinikum Dresden und dem Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig kooperierte.

Vor etwa 400.000 Jahren trennten sich die gemeinsamen Vorfahren, als die Neandertaler aus Afrika nach Europa migrierten. Mit der nächsten großen Reisewelle kam der moderne Mensch vor rund 60.000 Jahren aus Afrika. Und obwohl er sich mit dem Neandertaler fortpflanzte, was für die noch in heute lebenden Menschen nachweisbaren Neandertaler-DNA-Spuren sorgte, konnte sich der "ursprünglichere" Mensch nicht durchsetzen und verschwand vor ungefähr 30.000 Jahren. Zu einer Zeit, in der sich längst ausgefeilte handwerkliche, soziale und künstlerische Fähigkeiten herauskristallisiert hatten.

Ein feiner Unterschied

Eigentlich hat man bisher angenommen, dass sich moderne Menschen und Neandertaler in Sachen Neokortex ziemlich ähnlich waren – zumindest was die Größe angeht. Das Forschungsteam sah allerdings genauer hin. Bei den Vorläuferzellen des Frontallappens kommt ein bestimmtes Protein besonders häufig vor, nämlich TKTL1 (in Langfassung: Transketolase-like 1). Proteine sind aus etlichen Aminosäuren zusammengesetzt – und in der bei modernen Menschen üblichen Sequenz zeigt sich im Vergleich zu Neandertalern ein offenbar folgenschwerer Unterschied. Statt der Aminosäure Arginin befand sich bei ihnen an dieser Stelle ein Lysin.

Was das genau bedeutet, fand Erstautorin Anneline Pinson mit ihren Kolleginnen und Kollegen im Tierversuch heraus. Wurde der Neokortex der Mäuse mit der bei uns üblichen TKTL1-Variante versetzt, produzierte er Zellen, die als "treibende Kraft für ein größeres Gehirn" gelten, wie es in einer Aussendung heißt. Diese Unterart der sogenannten Gliazellen vermehrte sich allerdings nicht, wenn das Neandertaler-Protein im Neokortex landete.

Kognitiv leistungsfähiger

Entsprechend entstanden mehr Nervenzellen in jenen Mäusegehirnen, die mit dem Protein von modernen Menschen versetzt wurden. Dies prüfte die Forschungsgruppe zusätzlich auch bei Frettchen und Organoiden – also menschlichen Mini-Gehirnen in Zellkultur, die die Hirnentwicklung imitieren. Auch in diesen Fällen wies das Team nach, dass mit dem Neandertaler-Protein weniger Nervenzellen entstanden. Und es konnte detailliert nachvollziehen, auf welche Weise diese Proteine den Stoffwechsel und damit die Zellproduktion beeinflusst.

Die Ergebnisse sind bedeutsam, um die Unterschiede zwischen modernen Menschen und Neandertalern zu bestimmen und nachzuvollziehen. "Mehr Nervenzellen zu produzieren stellt die Grundlage für höhere kognitive Funktionen dar", sagt Studienleiter Huttner. "Wir denken, dass dies nun der erste überzeugende Beweis dafür ist, dass moderne Menschen kognitiv leistungsfähiger waren als Neandertaler."

Ein Grund zum Aussterben?

Die Anzahl der Neurone ist nicht alles, doch diese Kennzahl – vergleichbar mit der Rechenleistung eines Computers – kann bereits einen Hinweis auf bessere Denkvoraussetzungen liefern. Daher bezeichnet Chris Stringer vom Naturhistorischen Museum London, der nicht an der Studie beteiligt war, diese Arbeit als "bahnbrechend".

Ideen dazu, warum Neandertaler ausstarben, seien gekommen und gegangen – "es ging um bessere Werkzeuge, bessere Waffen, richtige Sprache, Kunst und Symbolik, auch um bessere Gehirne", sagte Stringer. "Endlich gibt es einen Hinweis darauf, warum unsere Gehirne besser waren als die der Neandertaler." Während Letztere also vermutlich nicht so dümmlich waren, wie sie heute oft dargestellt werden, könnte der kleine Unterschied im Gehirn doch große evolutionäre Folgen gehabt haben. (Julia Sica, 11.9.2022)