Das vergangene Wochenende hatte sich Wladimir Putin sicher anders vorgestellt. In Russland fanden bis zum 11. September Regional-, Gouverneurs- und Stadtratswahlen statt; lange war dieses Datum deshalb als Termin für die Volksabstimmungen in den von Russland besetzten ukrainischen Gebieten heiß gehandelt worden. Bis dahin hätte eigentlich der gesamte Donbass "befreit" sein sollen, wie es im zynischen Moskauer Regierungssprech heißt.

Der ohnehin wenig glaubwürdige "Wahlerfolg" – die Kreml-Partei Einiges Russland gewann auf allen Ebenen klar – dürfte Russlands Präsidenten kaum über den Umstand hinwegtrösten, dass seine Armee am Wochenende in der Ukraine eine schmerzhafte Niederlage einstecken musste: Sie wurde in der Region Charkiw aus Gebieten, die für die Eroberung des Donbass strategisch wichtig sind, vertrieben. Dessen völlige "Befreiung" ist damit bis auf weiteres utopisch, den russischen Truppen drohen vielmehr weitere Gebietsverluste.

In Russland fanden bis zum 11. September Regional-, Gouverneurs- und Stadtratswahlen statt.
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Noch schwerer wiegen könnte aber der psychologische Effekt, denn Putin muss vor allem einen Stimmungswandel zu Hause fürchten. Dass der nicht mehr nur oppositionelles Wunschdenken ist, zeigten in den letzten Tagen gleich mehrere Episoden.

Ohne konkrete Folgen

Zum einen war da der Auftritt des ehemaligen Duma-Abgeordneten Boris Nadeschdin in einer Talkshow des Senders NTV. Nadeschdin forderte offen das Ende des Krieges, seufzte nur ein ernüchtertes "Mein Gott", als der Politiker Sergej Mironow vom ukrainischen "Nazi-Regime" sprach. Prompt kam ihm der Politikanalyst Wiktor Olewitsch zu Hilfe. Niemand könne ernsthaft glauben, die "Spezialoperation" laufe nach Plan, meinte dieser. Eigentlich sind solche Szenen im Staatsfernsehen undenkbar.

Zum anderen forderten am Montag Abgeordnete aus 18 Sankt Petersburger und Moskauer Bezirken in einer gemeinsamen Erklärung die Absetzung des Präsidenten. In der Vorwoche hatten Volksvertreter eines weiteren Petersburger Bezirks Putin Hochverrat vorgeworfen.

Noch bleibt das ohne konkrete Folgen. Doch die kleiner werdenden Abstände zwischen derartigen Nachrichten zeigen: Der ausbleibende Kriegserfolg sorgt für Nervosität und Kritik, die nicht mehr nur aus der verfolgten Opposition oder dem Exil kommt.

Bis zum Entstehen einer breiteren Protestfront ist es noch ein weiter Weg. Putin weiß, wirklich gefährlich wird die Unzufriedenheit zu Hause für ihn dann, wenn Geheimdienste und Militär das Vertrauen in ihn verlieren. Sollte die Stimmung zu kippen drohen, wird der Kreml seine Repressionen verschärfen, um potenzielle Demonstranten abzuschrecken. Generell gilt: So inkompetent das russische Militär sich dieser Tage zeigt, so erfahren im Zerschlagen von Protest ist dafür der heimische Polizeiapparat.

Je schlechter der Krieg läuft, desto größer wird die Nervosität im Kreml werden, und desto schwerere Zeiten kommen auf den Rest der Opposition zu. Und doch scheint es erstmals seit über einem halben Jahr so, als gebe es eine leise Hoffnung darauf, dass sich in Russland etwas regen könnte. Vielleicht, nur vielleicht, wird das Wochenende des 11. September zu einem psychologischen Wendepunkt in diesem Krieg. Die Einigkeit jedenfalls, die Russlands Regierung sowohl fordert als auch propagiert, wurde durch die jüngsten militärischen Rückschläge als Märchen enttarnt. (Thomas Fritz Maier, 13.9.2022)