Im Gastblog diskutiert Rechtsanwalt Johannes Pepelnik die ab 1. Oktober neu geltenden Straßenverkehrsordnungsregeln für Radfahrende.

Im April dieses Jahres stellten Bundesministerin Leonore Gewessler und Lukas Hammer (Grüne) den Entwurf der neuen StVO vor. Im Rahmen der parlamentarischen Begutachtung langten knapp 150 Stellungnahmen ein. Die Novelle wurde im Juli vom Nationalrat beschlossen. Für den Entwurf stimmten ÖVP, Grüne und Neos, dagegen SPÖ und FPÖ.

Auch für Fahrräder gelten einige Regeln im Straßenverkehr. Werden diese wirklich verbessert, wie behauptet?
Foto: imago images/Peter Endig

Nachstehend folgt eine Würdigung, inwiefern es sich bei den Neuerungen um "Verbesserungen im Sinne von Vereinfachungen der Rechtslage und Verkehrssicherheit" handelt.

Flexibilität in der Planung: Landwirtschaftliche Fahrzeuge auf dem Radweg?

§ 8 Abs. "(3) Die Behörde kann, abweichend von §8 Abs.4, das Befahren von Radfahranlagen mit landwirtschaftlichen Fahrzeugen und, jedoch nur außerhalb des Ortsgebietes, Fahrzeugen der Klasse L1e mit elektrischem Antrieb erlauben. Auf Geh- und Radwegen dürfen Lenker von Kraftfahrzeugen, wenn sie sich Fußgängern nähern, mit einer Geschwindigkeit von höchstens 10 km/h fahren."

Bei der Vorstellung klang es noch so, dass mehr Radinfrastruktur geschaffen werden sollte ("Flexibilität für Behörden bei Radinfrastrukturplanung"). In der Novelle liest es sich aber so, dass die Radinfrastruktur für den landwirtschaftlichen Verkehr und – außerhalb des Ortsgebiets – S-Pedelecs geöffnet wird. Damit können einem auf Radwegen große landwirtschaftliche Fahrzeuge begegnen. Dabei spielt die Größe des Fahrzeugs beziehungsweise die Klasse des landwirtschaftlichen Fahrzeugs ebenso wenig eine Rolle wie dessen Zweck der Fahrt auf dem Radweg. Dazu kommt, dass die im Gesetz vorgeschriebene Annäherungsgeschwindigkeit von 10 km/h nur gegenüber Zufußgehenden, nicht aber auch gegenüber Radfahrenden gilt.

Das neue Reißverschlusssystem

Das Reißverschlusssystem galt bisher am Ende eines Radfahrstreifens und wird nun um den Anwendungsfall parallel einmündender Radwege innerorts erweitert:

"Das Reißverschlusssystem ist auch anzuwenden, wenn die beschriebenen Umstände in Bezug auf einen Radfahrstreifen oder innerhalb des Ortsgebietes auf einen parallel einmündenden Radweg, nach dessen Verlassen der Radfahrer die Fahrtrichtung beibehält, auftreten." (§ 11 Abs. 5)

Daher wurde in der Bestimmung des § 19 Abs. 6a StVO ein Halbsatz eingefügt, der den generellen Nachrang beim Verlassen einer Radverkehrsanlage abschwächt:

"Radfahrer, die einen nicht durch eine Radfahrerüberfahrt fortgesetzten (§ 56a) Radweg oder Geh- und Radweg verlassen, haben anderen Fahrzeugen im fließenden Verkehr, ausgenommen in Fällen von parallel einmündenden Radwegen innerhalb des Ortsgebietes, nach deren Verlassen sie die Fahrtrichtung beibehalten (§11 Abs. 5 letzter Satz), den Vorrang zu geben."

Der generelle Nachrang beim Verlassen der Radverkehrsanlange nach §19 (6a) gilt also noch immer. Das neue Reißverschlusssystem trifft daher nur 1.) innerorts 2.) auf einem parallel einmündenden 3.) Radweg zu.

Zunächst ist hervorzuheben, dass ein von der Fahrbahn abgesetzter, räumlich getrennter Radweg nicht Bestandteil der daneben liegenden Fahrbahn ist und daher für eine allfällige Vereinigung dieser beiden Verkehrsflächen das Reißverschlusssystem nicht gilt. Dies stellt ein unnötig zu prüfendes Erfordernis dar, da es ja jetzt darauf ankommt, in welchem Winkel der Radweg in die Fahrbahn einmündet. Je nach Winkel müssen die Radfahrenden stehen bleiben oder dürfen im Reißverschlusssystem weiterfahren. Das Kuratorium für Verkehrssicherheit (KfV) spricht von einer "gefährlichen Überforderung der Verkehrsteilnehmenden".

Der verpflichtende Seitenabstand

"Beim Überholen ist ein der Verkehrssicherheit und der Fahrgeschwindigkeit entsprechender seitlicher Abstand vom Fahrzeug, das überholt wird, einzuhalten. Beim Überholen mit Kraftfahrzeugen von Radfahrern und Rollerfahrern (§ 88b) hat der Seitenabstand im Ortsgebiet mindestens 1, 5 m und außerhalb des Ortsgebietes mindesten 2 m zu betragen; bei einer gefahrenen Geschwindigkeit des überholenden Kraftfahrzeuges von höchstens 30 km/h kann der Seitenabstand der Verkehrssicherheit entsprechend reduziert werden." (§ 15 Abs. 4)

Nach der bisherigen Regelung war ein der Verkehrssicherheit und Fahrgeschwindigkeit entsprechender seitlicher Abstand vom Fahrzeug, das überholt wird, einzuhalten. Dies wurde nunmehr im Sinne einer Konkretisierung für das Überholen von Radfahrenden durch Kraftfahrzeuge geregelt.

Nicht als Überholen gilt das Vorbeibewegen an Radfahrenden auf einem Radfahrstreifen und einem Mehrzweckstreifen, da sich diese neue Bestimmung des einzuhaltenden bezifferten Mindestabstandes lediglich auf Überholvorgänge bezieht. Nach § 2 Z 29 StVO gilt nicht als Überholen das Vorbeibewegen an einer auf einem Radfahrstreifen fahrenden Person sowie das Nebeneinanderfahren von Fahrzeugreihen (auch mit unterschiedlicher Geschwindigkeit) auf Fahrbahnen mit mehr als einem Fahrstreifen für die betreffende Fahrtrichtung und das Nebeneinanderfahren (auch mit unterschiedlicher Geschwindigkeit). Dass das Vorbeifahren von Kfz an Radfahrenden, die auf Mehrzweck- oder Radfahrstreifen fahren, nicht gilt, ist deshalb besonders bedauerlich, da nach einer Untersuchung des KfV hier die Abstände sogar noch geringer waren.

Das Vorbeifahren mit unter 30 km/h ist immer erlaubt. Dies führt zu einer Verschlechterung der derzeitigen Rechtslage, da ja auch bei geringen Geschwindigkeiten ein der Verkehrssicherheit entsprechender Abstand einzuhalten wäre. Das KfV weist darauf hin, dass die Hälfte aller Kraftfahrzeuge einen Seitenabstand von 41 cm und weniger einhalten.

Bei roter Ampel abbiegen?

Rechtsabbiegen bei Rot gilt nicht automatisch, sondern stellt lediglich eine Möglichkeit für die Straßenverwaltungen dar, einzelne bestimmte Kreuzungen freizugeben. Die neue StVO regelt nunmehr die Rahmenbedingungen, unter denen das Rechtsabbiegen bei Rot erlaubt werden kann: Seitens der jeweiligen Behörde kann dies nur erlaubt werden, wenn keine Bedenken aufgrund der Verkehrssicherheit bestehen und gilt nur wenn die Zusatztafel an der Ampel montiert ist. Aber auch dann muss 1.) zuvor angehalten werden 2.) eine Behinderung oder Gefährdung anderer nicht zu erwarten sein.

Unter "Anhalten" verstehet die Exekutive zumeist einen Fuß am Boden, obwohl ein Rad auch bei einem Track Stand "angehalten wird". Der österreichische Radsportverband weist zurecht darauf hin, dass die Radfahrenden bei Entfall der Anhalteverpflichtung den gefährlichen Kreuzungsbereich schneller wieder verlassen könnten.

In Linz wurde zum "Abbiegen bei Rot" ein Pilotversuch für alle Verkehrsteilnehmende an drei Kreuzungen durchgeführt. Im Rahmen der Studie wurden elf Ausschluss- und sechs Abwägungskriterien erarbeitet, die nunmehr auch als Richtschnur dienen sollen, welche Kreuzungen für das Rechtsabbiegen bei Rot für Radfahrende freigegeben werden können. In Wien werden dies nur Kreuzungen sein, auf denen sich Radfahrende auf einer Radfahranlage annähern und nach rechts in eine Radfahranlage einbiegen, die vor dem zunächst querenden Fahrstreifen liegt. Die übrigen Bundesländer warten auf die Empfehlung des FSV (Österreichische Forschungsgesellschaft Straße – Schiene – Verkehr), die derzeit im Entwurf vorliegt und mit deren Verabschiedung Ende Oktober gerechnet wird.

Verkomplizierung der Radfahrerüberfahrt

"Radfahrer dürfen sich Radfahrerüberfahrten, wo der Verkehr nicht durch Arm- oder Lichtzeichen geregelt wird, nur mit einer Geschwindigkeit von höchstens 10 km/h nähern und diese nicht unmittelbar vor einem herannahenden Fahrzeug und für dessen Lenker überraschend befahren, es sei denn, dass in unmittelbarer Nähe keine Kraftfahrzeuge aktuell fahren." (§ 68 Abs .3 a)

Früher galt, dass "auf" der Radfahrerüberfahrt nur 10 km/h gefahren werden durften. Dann ist die Erkenntnis gereift, dass es nicht um die Geschwindigkeit auf dem Zebrastreifen für Radfahrende geht, sondern die Geschwindigkeit, mit der sich Radfahrende annähern – also wurde der Paragraph dahingehend geändert (Annäherung). Nunmehr kommt neu eine Ausnahme von dieser Annäherungsgeschwindigkeit: "es sei denn, dass in unmittelbarer Nähe keine Kraftfahrzeuge aktuell fahren."

Wenn sich also in unmittelbarer Nähe der Überfahrt keine Kraftfahrzeuge aktuell befinden, darf sich der oder die Radfahrende mit einer Geschwindigkeit über 10 km/h der Kreuzung nähern. Dies wird dazu führen, dass bei Strafmandaten in Zukunft von der Polizei nachgewiesen werden muss, dass in unmittelbarer Nähe Kraftfahrzeuge aktuell gewesen sind!

Die neue Wortfolge "in unmittelbarer Nähe keine Autos aktuell fahren" scheint eine Tautologie zu sein. Wie soll ein Kraftfahrzeug nicht aktuell in unmittelbarer Nähe fahren, oder andersherum wie sollte ein Kraftfahrzeug nicht in unmittelbarer Nähe sein, aber doch aktuell die Kreuzung befahren wollen?

Inzwischen gibt es eine derartige Vielzahl von Voraussetzungen für das Überqueren, die allesamt unbestimmte Gesetzesbegriffe sind, dass man Radfahrenden leider nur nahelegen kann, vor ungeregelten Kreuzungen sicherheitshalber langsam zu fahren.

Leider wieder keine Verbände-Regel

Statt einer einfachen Verbände-Regel für Gruppen von Radfahrenden wie in Deutschland, der Schweiz oder wie in Österreich für Fußgehergruppen zu schaffen, beinhaltet die Novelle einen neuen Satz am Ende des § 68 Abs. 2, der im Grunde das Nebeneinanderfahren regelt und wie folgt lautet:

"Radfahrer in Gruppen ab zehn Personen ist das Queren einer Kreuzung im Verband durch den übrigen Fahrzeugverkehr zu erlauben. Dabei sind beim Einfahren in die Kreuzung die für Radfahrer geltenden Vorrangregeln zu beachten; der voran fahrende Radfahrer hat im Kreuzungsbereich den übrigen Fahrzeuglenkern das Ende der Gruppe durch Handzeichen zu signalisieren und erforderlichenfalls vom Fahrrad abzusteigen. Der erste und letzte Radfahrer der Gruppe haben dabei eine reflektierende Warnweste zu tragen.

Die Ministerin versprach "erleichtertes Radfahren in Gruppen". Fährt eine Gruppe (mindestens zehn Personen, erste und letzte tragen Warnwesten) in eine Kreuzung ein, ist ihnen das gemeinsame Verlassen einer Kreuzung zu ermöglichen (zum Beispiel, wenn die Ampel währenddessen auf Rot umgeschaltet hat). Voraussetzung ist, dass dabei der Voranfahrende stehen bleibt und das Ende der Gruppe anzeigt.

Dass eine Sonder-Regelung für das Überqueren einer Kreuzung eingeführt wird, ist sachfremd. Festgelegt wird nun, dass beim Einfahren in die Kreuzung die geltenden Vorrangregeln zu beachten sind und es hier keine Ausnahmen gibt. Klargestellt sei, dass diese Neuregelung bei Eisenbahnkreuzungen nicht gilt. Auch stellt diese Ausnahme keine Ausnahme von Straßensondernutzungsregeln dar, das heißt Veranstaltungen oder "Versammlungen" müssen weiterhin angezeigt werden – der ÖAMTC ortete die Gefahr einer "Critical Maß"- Bestimmung und forderte eine Höchstgrenze der Gruppe von 40 Personen.

Nebeneinanderfahren: Einfacher oder komplizierter?

Bisher galt für das Nebeneinanderfahren: Radfahrende dürfen nebeneinander fahren auf Radwegen, Fahrrad-, Wohnstraßen, Begegnungszonen oder bei Trainingsfahrten mit Rennfahrrädern sowie in Fußgängerzonen, wenn das Befahren erlaubt ist.

Zu den oben dargestellten Kontexten wird das Nebeneinanderfahren in folgenden Situationen ermöglicht:

  • auf allen sonstigen Radfahranlagen (= 11b Radfahrstreifen, Mehrzweck etc.)
  • Auf Fahrbahnen, mit einer Höchstgeschwindigkeit von maximal 30km/h (ausgenommen auf Schienenstraßen, Vorrangstraßen und Einbahnstraßen gegen die Fahrtrichtung)
  • Bei der Begleitung eines Kindes unter zwölf Jahren durch eine Person, die mindestens 16 Jahre alt ist, ist das Fahren neben dem Kind (ausgenommen auf Schienenstraßen) zulässig. Hier ist nochmals die Kinderfahrraddefinition der StVO in Erinnerung zu rufen: Kinderfahrräder gelten als Spielzeug, haben einen äußeren Felgendurchmesser von höchstens 300 mm und eine erreichbare Fahrgeschwindigkeit von höchstens 5 km/h.

In den neu geschaffenen Situationen darf aber nur mit einem einspurigen Fahrrad nebeneinander gefahren werden, wenn

  • niemand gefährdet wird.
  • das Verkehrsaufkommen es zulässt.
  • andere Verkehrsteilnehmende nicht am Überholen gehindert werden.
  • Fahrzeuge des Kraftfahrlinienverkehrs nicht behindert werden.

Diese Zusatzvoraussetzungen gelten aber nicht für die Kinderbegleitung. Die Neuregelung ermöglicht das Nebeneinanderfahren für nur zwei Radfahrende.

Nebeneinanderfahren wird also noch komplizierter. Nicht nebeneinanderfahren darf man also außerorts auf Straßen oder mit einem Lastenfahrrad. Wobei das Verbot, Nebeneinander mit einem Lastenrad zu fahren nicht für die Kinderbegleitung gilt, da es in dem Satz vorher geregelt ist.

Zusammenfassend werden die obigen Bestimmungen allein wohl nicht in der Lage sein, den Radverkehrsanteil zu heben und das Radfahren einfacher, sicherer und niederschwelliger zu gestalten. Zu befürchten sind mit Unkenntnis verbundene Verunsicherungen und damit neues Konfliktpotenzial unter den ohnehin hierzulande nicht zwingend friedfertigen Verkehrsteilnehmern.

(Johannes Pepelnik, 28.9.2022)