Journalisten, heißt es, sollen ihre Karten auf den Tisch legen, wie sie zum Thema stehen, über das sie schreiben. "Full disclosure" also, wie es im Englischen heißt: Als Sohn eines Schneidermeisters, dessen Vater schon ein Schneidermeister war, habe ich dreiteilige Anzüge getragen, lange bevor ich die erste Bluejeans bekam. In der Werkstätte meines Vaters, einem Salon für Maßkleidung, habe ich mir in den Mittagspausen zwischen Vormittags- und Nachmittagsunterricht mein Taschengeld durch einfache Zuarbeiten verdient. Meine erste Jeans war schließlich maßgeschneidert – und bar der charakteristischen deutlich sichtbaren, oft gelben industriellen Nähte dieses Kleidungsstücks. So viel Vulgarität kam meinem Vater nicht über den Nähtisch.

Dreiteiler hat man in Büros schon lange keine mehr gesehen. Eine rasche Bildersuche auf Google offenbart, dass selbst Bankdirektoren und der Bundespräsident längst auf die Weste verzichten, ohne die es kaum Bilder von Bruno Kreisky oder seinem jungen Finanzminister gibt. Stattdessen findet es dessen Gen-Y-Nachfolger offenbar in Ordnung, unbeschuht in türkisen Socken im Nationalrat aufzutreten, dem höchsten Gremium der Republik. Einsam und allein hält nur noch Tarek Leitner in der ZiB 1 dem Dreiteiler die Treue, selbstverständlich in angemessenem Schuhwerk und Krawatte. Publikumsbeschwerden (meist hässliche) über angeblich unangemessene Bekleidung gibt es nur bei Moderatorinnen.

Dresscodes am Arbeitsplatz scheinen seit geraumer Zeit nur noch für das Verkaufspersonal im Handel zu gelten. Die "Dress-down-Days" von einst, an denen legere Kleidung im Büro im absichtsvollen Kontrast zur Dress-up-Grundregel erlaubt war, haben sich längst überlebt. Seit Homeoffice und Zoom ist daraus ein "Everything goes" geworden. Von verdrückten T-Shirts bis zur (dankenswerterweise meist nicht sichtbaren) fehlenden Hose wird so gut wie alles nachgesehen. Karl Lagerfelds Diktum von der Jogginghose und dem Kontrollverlust über das eigene Leben wurde zur unausgesprochenen Kleiderordnung im Arbeitsleben. Auch das übrigens ein Begriff, der zwischen Work-Life-Balance und Homeoffice verloren zu gehen droht.

Powerdressing für Frauen

Der Weg von Frauen an die Spitze von Unternehmen und Politik führt über die Adaption des männlichen Anzugs an die weibliche Form. Sich so zu kleiden, als würde man bereits dazugehören, ist der auf psychologischen Studien begründete Rat von John T. Molloy, der mit seinen Büchern Dress for success und The women’s dress for success book 1975 und 1977 die Grundlage des Powerdressings beschrieb.

Dazugehören, das bedeutete für die berufliche und politische Karriere den Dresscode der (männlichen) Führungsspitze anzunehmen. Musste Marlene Dietrich in den 30er-Jahren als Trendsetterin noch Herrenanzüge abändern lassen, deklarierte Yves Saint Laurent 1966 schließlich die modische Gleichberechtigung: Mit "Le Smoking" schuf er einen Dreiteiler für Männer wie Frauen. Und als Frauen begannen, sich auf ihrem eigenen Weg an die Spitze der männlichen Uniform zu bedienen, setzten sie dabei Akzente. Die britische Premierministerin Margaret Thatcher ließ ihre Anzüge mit Rock statt Hose beim Traditionshause Aquascutum schneidern. Perlen, Blusen und Handtaschen setzte sie hingegen als "weibliche Angriffswaffe ein", wie die Moderedakteurin der Financial Times, Jo Ellison, schrieb.

Ein farbliches Highlight zwischen den graublauen Anzügen der Männer waren die Blazer von Angela Merkel.
Foto: imago

In unseren Tagen ist Angela Merkel die weltweit bekannteste modische Verkörperung der Maxime des "Powerdressings": Mit ihrer Uniform von dunkler Hose und regenbogenfarbigen Blazern der Hamburger Designerin Bettina Schoenbach hat sie sich ihren Platz in den Fotobüchern der Geschichte gesichert – und dabei doch einen unverkennbar weiblichen Farbfleck in der langweiligen blau-grau-schwarzen Riege der sie umgebenden Anzugträger gesetzt. Schon früh in ihrer politischen Karriere wurde der Blazer zu ihrem Standard-Outfit, irgendwann zwischen Frauen- und Jugendministerin und der Rolle als CDU-Chefin tauschte sie den Rock mit der Hose. Die Marke Merkel war damit etabliert noch ehe sie zur bedeutendsten Politikerin Deutschlands und der EU wurde.

Drei- oder zweiteilig?

Dresscodes und Powerdressing sind natürlich längst vielschichtiger geworden als das Repertoire von drei- oder zweiteiligen Anzügen für Männer und Frauen. Schuld daran trägt die digitale Kulturrevolution, die ab den späten 1970er-Jahren Fahrt aufnahm. In ihren jungen Jahren sehen wir ihre beiden Hauptprotagonisten Steve Jobs und Bill Gates noch in Anzug und Krawatte, als Salesmen, die ihren anfangs noch belächelten elektronischen Gadgets Kredibilität in der Businesswelt verschaffen wollten. IBM-Verkäufer suggerierten damals im dunkelblauen Anzug die Seriosität von Banken. Daran orientierten sich auch die Computerkids, von denen viele gerade ihr Studium abgebrochen hatten. Eine Fliege statt Krawatte war das Äußerste an Rebellion, das sich Jobs bei öffentlichen Auftritten erlaubte.

Dann wendete sich das Blatt. Mac und PC stellten die Businesswelt auf den Kopf, aus Nerds wurden zuerst Multimillionäre, dann Milliardäre. Und wer das Gold hat, macht die Regeln, auch die modischen. Also zog der Campus-Stil von amerikanischen Eliteuniversitäten in die Geschäftswelt ein, außen getragene Button-down-Hemden und Jeans, Pullover mit V-Ausschnitt und Turnschuhe.

Arbeitsuniform

Seinen besonderen persönlichen Stil prägte Steve Jobs Anfang der 1980er-Jahre. Jobs war bekannt für seine Obsession für japanisch inspiriertes Design. Für den Mac heuerte er den Designer des Sony-Walkman, Hartmut Esslinger, und dessen Firma Frog Design an. Bei Besuchen in Sony-Fabriken bewunderte Jobs die uniformartigen Jacken der Mitarbeiter, vom – kürzlich verstorbenen – Modeschöpfer Issey Miyake gestaltet. Jobs liebte die Idee, seine Mitarbeiter durch ein uniformiertes Outfit an Apples Unternehmensphilosophie zu binden, und beauftragte Miyake, einen ähnlichen Stil für Apple zu entwickeln. Wieder daheim, wurde Jobs für seine Uniformwünsche bei einer Mitarbeitersammlung ausgebuht. Was blieb, war die Freundschaft mit dem Modeschöpfer, von dem Jobs schließlich 100 Stück seines berühmten Markenzeichens bestellte: eines minimalistischen schwarzen Pullover mit umgeschlagenem Kragen, leicht wie ein T-Shirt, eher Jacke als Hemd, mit Jeans und hellen Sneakers getragen.

Dunkles oder schwarzes Outfit bleibt für die superreichen Jungs des Silicon Valley prägend, von Jobs Nachfolger Tim Cook bis zu Mark Zuckerberg. Man muss schon in die Anfangsjahre des sozialen Netzwerks zurückgehen, um Zuckerberg-Fotos mit Hoodie zu finden. Wenn sich der Meta-CEO heute vor dem US-Kongress gegen Vorwürfe zur Wehr setzt, dass sein Unternehmen zur gesellschaftlichen Destabilisierung beitrage, dann ist der Klassiker angesagt: dunkler Anzug, Krawatte in gedeckten Tönen, weißes Hemd und ordentliches Schuhwerk. Eben sich so kleiden, als würde man dazugehören.

Dresscode adé

Wenn selbst der CEO an manchen Tagen krawattenlos mit Jeans und Sneakers ins Büro kommt und sich den Anzug nur mehr für Tage mit wichtigen Meetings vorbehält, ist das Signal an die Mannschaft klar: Der gemeinsame Dresscode ist dem individuellen Spektrum an Bekleidungsmöglichkeiten gewichen.

Homeoffice und Videokonferenzen haben in den vergangenen beiden Jahren alle restlichen Vorstellungen von "Anständig anziehen fürs Büro" beseitigt. Während der Lockdowns gehörte es fast schon zum guten Ton, zu erklären, dass man an manchen Tagen überhaupt nicht aus Leiberl und Unterwäsche herauskam.

Ein Bruch mit vorherrschenden Bekleidungsnormen ist ein Zeichen der Rebellion: John Travolta im weißen Dreiteiler mit schwarzem Hemd in der Disco in Saturday Night Fever nahm den Bankern und Wirtschaftsbossen ihre Uniform. New Money im Hoodie signalisierte Old Money, wir geben längst den Ton an. Aber verknittertes T-Shirt und Shorts vor dem Bildschirm signalisiert eher den Trend zur Verwahrlosung als die bewusste Missachtung einengender Regeln. Powerless Dressing statt Powerdressing. Karl Lagerfeld kommt einem in den Sinn: Sein ihm zugeschriebenes Zitat (in der bekannten Form wahrscheinlich nie gesagt) steht vor dem Hintergrund einer von ihm selbst oft beschriebenen Haltung. "Gehen lassen kenne ich nicht", erklärte er bei Gottschalk auf die Frage nach einer Jogginghose, "selbst nicht vor der Katze daheim."

Arbeit oder Freizeit

Gehen lassen: So lautet das Stichwort für die Haltung gegenüber der eigenen Arbeit und der von Kolleginnen und Kollegen. Bewusste Kleidung für den Job ist ein Zeichen für Achtung und Selbstachtung, auf der Skala zwischen Dreiteiler und legerem, aber bewusst gewähltem Dresscode. Die Trennung zwischen Arbeitszeit und Freizeit verlangt auch nach einem Kleidungswechsel, wenn wir nicht die unterschiedlichen Rollen zwischen Büro und unserer privaten Welt aufgeben wollen. Vielleicht ist dies die Stunde der Powerfrauen, die Karrierepositionen zu besetzen, denn sie beherrschen das Spiel mit der passenden Kleidung meist viel besser als die meisten Männer.

Wie meine persönliche Geschichte zwischen Dreiteiler und Jeans endete? Journalisten sind Grenzgänger, mit einem Bein in der Welt von Politik und Unternehmen, über die sie berichten, mit der anderen in der Welt ihres Publikums, dem sie verpflichtet sind.

Vor vielen Jahren hatte ich Gelegenheit, als mitreisender Journalist einer Ministerdelegation in einem Briefing der amerikanischen DEA (Drug Enforcement Agency) über ihre Arbeit zuzuhören. Vereinbarungsgemäß gab es einen Teil, der "off records" war und in dem ich die Runde verlassen musste. Als ich aufstand, sagte mir einer der DEA-Mitarbeiter im Vorbeigehen, er dachte sich schon, dass ich der angekündigte Journalist sei. Wie er darauf kam? Meine Jeans zum dunkelblauen Blazer hatten mich in der Runde der makellosen Anzugträger verraten. (Helmut Spudich, 19.9.2022)