Der weibliche Körper als Übungsplatz der Selbstermächtigung: Szene aus "Ophelia’s Got Talent".

Nicole Marianna Wytyczak

Von dem griechischen Philosophen Heraklit gibt es eine berühmte Erkenntnis: In ein und denselben Fluss kann man nicht zweimal auf dieselbe Weise steigen. Es bleibt immer ein Unterschied, das Wasser erneuert sich, und Zeit vergeht auch. Der Fluss ist ein Bild für dieses Verstreichen der Zeit, für die Dauer im Wechsel, wie Goethe das in einem seiner lyrischen Hauptwerke auf den Punkt brachte. Was bisher vielleicht noch fehlte, war eine Überlegung, ob Heraklits Theorem auch auf einen Swimmingpool oder ein Aquarium anwendbar ist.

Nach der Premiere von Florentina Holzingers neuer Theaterarbeit Ophelia’s Got Talent am Donnerstagabend an der Berliner Volksbühne kann man sagen: Aber ja, und wie! Das Gleichmaß des heraklitischen Strömens wird dabei allerdings sehr stark in Wallung gebracht. Die österreichische Choreografin und Regisseurin hält es nicht mit Goethe, sondern mit ihrer eigenen physischen Kraft: Power im Wechsel wäre eine gute Devise für diesen wasserenzyklopädischen Abend.

Auf Kurs kommen

Es ist die erste Premiere im zweiten Jahr von René Pollesch an der Volksbühne, dem Berliner Theater, das nach einiger kulturpolitischer Verwirrung und einer unglückselig von oben ein- und draufgesetzten Intendanz durch Chris Dercon nun wieder auf Kurs kommen soll. Wobei dieser Kurs ja auch schon heraklitisch lange bewährt ist: konstruktives Zertrümmern, wie es Frank Castorf so lange vorgemacht hat, wie es nun aber nicht länger Männerdomäne sein soll.

Deswegen wurde Florentina Holzinger, längst ein Superstar im Grenzbereich zwischen Tanz und angrenzenden darstellenden Künsten, an die Volksbühne engagiert. Sie könnte für Pollesch das werden, was Christoph Marthaler für Castorf war – ein Gegenpol, allerdings ist Holzinger den Deklamationen von Pollesch durchaus nahe.

Untergehende Weiblichkeit

Ophelia’s Got Talent holt sich die Anspielung im Titel von Shakespeare, hätte das Leitmotiv einer untergehenden Weiblichkeit aber auch in verfänglicheren Kontexten finden können: Schließlich war es der deutsche Kulturbetrieb, der während der Nazijahre sogar eine "Reichswasserleiche" hervorbrachte.

Holzinger und ihr Ensemble beginnen im Stil einer Talente-Show, mit einer famos akrobatischen Darbietung an der erotisch aufgeladenen Stange (Pole) und einer Schwertschluckerin. Die dritte Jahrmarktnummer geht dann schief, eine Entfesselungskünstlerin muss von der Rettungsschwimmerin aus dem Bassin geborgen werden – unklar blieb dabei, wie groß das Risiko war und ob die eilig auftretenden Bühnenhelfer Teil der Show waren oder tatsächlich Grund zur Sorge bestand. Holzinger ist selbst einmal bei einem Bühnenunfall glimpflich davongekommen, sie geht ins Risiko, weiß aber auch um die Grenzen.

Jedenfalls wechselt das Stück in diesem unbehaglichen Moment in eine andere Dramaturgie und in einen anderen Groove. Der Übergang, eingetaktet von der kleinwüchsigen Performerin Saioa Alvarez Ruiz mit Klempnergeräten (Sounddesign: Stefan Schneider), ist grandios.

Leda und der Schwan

Danach gilt nicht mehr das Prinzip einer Castingshow (Auftritt und Abwahl), sondern eher das Gegenteil: Jedes Motiv, das Frauen mit Wasser kulturhistorisch irgendwann einmal verbunden hat, ist zugelassen und wird mit heutigen Zugängen verbunden. So wird die Geschichte von Leda und dem Schwan in eine gynäkologische Untersuchung mit Trauma-Anamnese überführt.

Es sind aber nicht nur die Metamorphosen des Ovid und der deutschen Seele mit ihrer Loreley, die Holzinger durchbuchstabiert – es sind auch die Register der Popkultur. Schon bald bekommt man bei Ophelia’s Got Talent den Eindruck, dass hier eine Revue alle ihre möglichen Enden – und ihre Genre-Implikationen – durchprobiert: das Musical als große Ensemblenummer (alle sind, wie bei Holzinger oft, nackt), der Katastrophenfilm (in dem ein Hubschrauber aus dem Schnürboden kommt, der dann auch als Sexobjekt dient), eine rote Hochzeit wie in Game of Thrones.

Als es schließlich auch noch Plastikflaschen in den Pool regnet, wird das Wasser als das "Blut der Erde" gleichsam zu einer Luftnummer. Das Klima reagiert eben auch auf den Säuregrad hinter Scylla und Charybdis.

Der weibliche Körper wird in Ophelia’s Got Talent zur Szene einer Gewalt, gegen die einerseits Krafttraining helfen könnte, andererseits paradoxe Selbsttechniken, bei denen Angelhaken als Piercing dienen und Anker auf Hintern tätowiert werden. In einem kühnen, wo nicht potenziell anstößigen Akt holt Holzinger schließlich noch ein paar Kinder auf die Bühne, eine unverbrauchte Spiegelgeneration für die da schon ein wenig ausgepowerten Performerinnen. Die Mädchen schaffen zu Ed Sheerans Bad Habits einen Schulterschluss zwischen Apokalyptik und Erlösungshoffnung. Die Volksbühne unter René Pollesch dürfte ihren ersten Hit haben. (Bert Rebhandl aus Berlin, 17.9.2022)