Starb 70-jährig in London: Hilary Mantel.

Foto: Alastair Grant

Dass viele Literatur- und Geschichts-Begeisterte in aller Welt bei Erwähnung des Namens Cromwell neuerdings zuerst an Thomas denken und nicht wie zuvor an Oliver, liegt an Hilary Mantel. Der eine, Thomas Cromwell (1485-1540), gehörte zu den wichtigsten Männern am Hofe König Heinrichs VIII, ja war jahrelang sogar der Chefberater jenes legendären englischen Königs am Übergang vom Mittelalter zur frühen Neuzeit. Thomas‘ historisch viel bedeutenderer Urgroßneffe Oliver leitete ein Jahrhundert später den Aufstand gegen Charles I; die Hinrichtung des unfähigen, verschwenderischen Königs 1649 stellt einen Meilenstein dar auf dem langen Weg Englands zu Rechtsstaatlichkeit und Monarchie.

Mantel war bereits eine etablierte, in kleineren Zirkeln bekannte Schriftstellerin, als ihr mit "Wolf Hall" (deutsch: Wölfe) der weltweite Durchbruch gelang. Mit einem Streich hatte sie das Genre des historischen Romans neu erfunden. Anschaulich, lebendig, beinahe hautnah – die Schwärmereien darüber, wie Mantel die Machenschaften des aus kleinsten Verhältnissen zu Reichtum und Macht aufsteigenden Cromwell beschreibt, wollten kein Ende nehmen. Verankert war der kreative Reichtum in präzisem Studium der historischen Quellen.

Tausende Seiten

Der Millionenerfolg erhielt 2009 den Booker-Preis, Großbritanniens wichtigste Literaturauszeichnung, ebenso wie drei Jahre später der Folgeband "Bring up the bodies" (Falken). Den Schlussstein der Tausende von Seiten umfassenden Trilogie über die brutale, blutige Welt der Tudors setzte 2020 Spiegel und Licht. Darin fällt Cromwell, der Meister blutiger Intrigen, selbst einer Verschwörung seiner zahlreichen Feinde zum Opfer.

Das hohe Arbeitspensum legt Zeugnis ab von der enormen Energie der kleingewachsenen Frau, die schwerste Widerstände zu überwinden hatte, im Privatleben ebenso wie in ihrer Berufskarriere. Mantel stammte aus einer irisch-katholischen Familie, lebte im weitgehend homogen protestantischen England der 1950er und 1960er Jahre also entfremdet von der Mehrheitsgesellschaft. Schon die Jugendliche verlor ihren Glauben an Gott, nicht aber das Gefühl der Bedrückung durch die religiösen Doktrinen: "Ich wuchs in dem Glauben auf, böse und schlecht zu sein."

Der Roman "Fludd" von 1989, auf Deutsch 2017 als Der Hilfsprediger erschienen, stellt eine Abrechnung mit der katholischen Kirche dar. Mit ihrem Familienhintergrund setzte sie sich in der 2003 veröffentlichten Autobiographie "Giving up the ghost" (Von Geist und Geistern) auseinander.

Einfallsreichtum

Ihren Mann Gerald McEwen heiratete Mantel gleich zweimal, zum ersten Mal mit zarten 21 Jahren, der zweite Versuch hatte 40 Jahre Bestand – ein Stabilitätsanker für die von schwerer Krankheit und mehreren Operationen gezeichnete Frau. Ihre viel zu lang falsch diagnostizierte und behandelte Endometriose-Erkrankung führte erst zur Einnahme von Psychopharmaka, später – Mantel war 27 Jahre alt – zur Entfernung ihrer Gebärmutter; dadurch sei sie, schrieb die Autorin später mit kühler Nüchternheit, "meiner Fertilität beraubt" worden.

Was ihr hingegen nie verlorenging, waren Einbildungskraft, Schreibtalent und Disziplin. Sie habe sich nach dem Jura-Studium an der Uni Sheffield für das Berufsleben als Autorin entschieden, hat Mantel vor Jahren der BBC anvertraut. "Dass ich flüssig schreiben konnte, wusste ich schon; erst später fand ich heraus, dass ich auch eine einfallsreiche Schreiberin war."

Und was für eine! Die "Queen des historischen Romans" ist Mantel genannt worden, zuletzt zu ihrem 70. Geburtstag im Juli – kein sonderlich vernünftiger Titel, schließlich hatte Mantel von ihrer irisch-katholischen Herkunft den Republikanismus behalten. Mit der Monarchie des 21. Jahrhunderts mochte sie nichts zu tun haben, wenn sie sich auch 2014 für Verdienste um die Literatur zur Ritterin des britischen Empire schlagen ließ.

Kritik an Royals

Dabei fand die weltberühmte Autorin das Königshaus frauen- und fremdenfeindlich. Kate Middleton, neuerdings die Prinzessin von Wales, werde dazu gezwungen, führte Mantel vor Jahren aus, sich als "Schaufensterpuppe ohne jede Persönlichkeit" zu präsentieren. Auch den Umzug von Prinz Harry und dessen Gattin Meghan nach Kalifornien legte sie der Institution zur Last: Die Tochter einer schwarzen Mutter und eines weißen Vaters sei Opfer von "schlimmem Rassismus" gewesen.

Der Popularität der berühmten Autorin in ihrer Heimat konnten solche Äußerungen nichts anhaben, nicht einmal unter Bediensteten der Monarchie. Unter Angestellten des damaligen Thronfolgers jedenfalls war es vor Jahren üblich, ihren Arbeitsplatz scherzhaft "Wolf Hall" zu nennen. Schließlich seien die Machtkämpfe um die Gunst des damaligen Prinzen Charles nicht weniger brutal als einst am Hof des Tudor-Königs.

Wenige Tage nach dem Amtsantritt von König Charles III ist Hilary Mantel am Donnerstag gestorben. (Sebastian Borger aus London, 23.9.2022)