Wenige Tage nach einem waghalsigen Paket massiver Steuersenkungen und riesiger Neuverschuldung stehen die britische Regierung und die Bank of England (BoE) unter hohem Druck der Finanzmärkte. Übers Wochenende fiel das Pfund gegenüber dem US-Dollar auf den Tiefststand seit 1971 und gab auch gegenüber anderen wichtigen Währungen nach. Die Opposition, aber auch frühere konservative Finanzminister warnten den erst seit Monatsbeginn amtierenden Kwasi Kwarteng vor den ökonomischen Folgen. Weder der Schatzkanzler noch Premierministerin Liz Truss würden "zu Marktereignissen Stellung nehmen", teilte ein Regierungssprecher mit.

Liz Truss hatte im Wettstreit um die Nachfolge von Boris Johnson viel versprochen. Das kostet Geld und beunruhigt die Märkte.
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Das Pfund ist in diesem Jahr gegenüber dem Dollar um mehr als 20 Prozent, im Vergleich zum Euro um sieben Prozent gefallen. Die Erwartungen der Trader am Finanzplatz London richteten sich am Montag auf die Zentralbank. Der BoE-Monetärausschuss hatte erst am Donnerstag den Leitzinssatz um 50 Punkte auf 2,25 Prozent erhöht. Damit waren die Verantwortlichen unter der Leitung von Gouverneur Andrew Bailey hinter den Erwartungen zurückgeblieben, zumal die US-Notenbank den größeren Schritt von 0,75 Prozent gegangen war. Bailey und sein Team müssen nun entscheiden, ob sie vor der nächsten regulären Sitzung Anfang November zu einer außerordentlichen Sitzung zusammenkommen. Die Märkte würden eine rasche Zinserhöhung um ein volles Prozent erwarten, glaubt der frühere Goldman-Sachs-Banker Jim O’Neill, der nach kurzer Zugehörigkeit zur konservativen Regierung nun im Oberhaus sitzt. "Falls das ausbleibt, geht der Run aufs Pfund weiter."

Eingelöste Versprechen

Kwarteng hat an der Uni Cambridge den Doktor in Wirtschaftsgeschichte erworben und gilt als blitzgescheit, verfügt aber über wenig Regierungserfahrung. Mit seinem "Mini-Haushalt" löste er ein Versprechen von Premier Truss ein. Diese hatte im innerparteilichen Wettstreit um die Nachfolge von Boris Johnson die Ankurbelung der Wirtschaft durch Steuersenkungen zum Kern ihrer Politik gemacht. Als Ziel gab Truss ein jährliches Wachstum von 2,5 Prozent aus, eine Marke, die zuletzt unter den Labour-Regierungen (1997–2010) erreicht wurde.

Ihr Rivale Rishi Sunak, unter Johnson zweieinhalb Jahre lang Finanzminister, sprach abschätzig von einer "Fantasieökonomie": Statt sofortiger Steuersenkungen müsse nach der gewaltigen, mehrere Hundert Milliarden Pfund umfassenden Corona-Hilfe für Unternehmen und Bürger zunächst die staatliche Schuldenlast reduziert werden. Diese erreichte Ende 2019 den historisch hohen Stand von 85,4 Prozent des BIPs. Ende Juli lag sie dem Statistikamt ONS zufolge bei 99,6 Prozent – Tendenz steigend.

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Auf dem Labour-Parteitag sprach die Schatten-Finanzministerin Rachel Reeves von einem "unglaublich beunruhigenden nationalen Notfall". Kritisch äußerten sich auch Kwartengs konservative Vorgänger. "Man kann nicht einfach mit Neuverschuldung ein Niedrigsteuerland schaffen", glaubt George Osborne. Schärfer formuliert es Ken Clarke: Wer wie Kwarteng glaube, dass die ohnehin Reichen durch Steuersenkungen zu mehr Arbeit und größeren Investitionen angeregt würden, liege falsch: "Sowas wird gern in Lateinamerika versucht, ohne Erfolg."

Steuergeschenke

Tatsächlich hatte die überraschende Abschaffung des Spitzensteuersatzes von 45 Prozent für die Bezieher von Jahreseinkommen über 150.000 Pfund (168.240 Euro) nicht nur für wütende Angriffe der Opposition gesorgt, sondern auch die Märkte beunruhigt, analysiert der konservative Ökonom Gerard Lyons. Zudem wird der niedrigste Steuersatz für Einkommen zwischen 14.098 und 56.430 Euro von 20 auf 19 Prozent gesenkt.

Hingegen waren Kwartengs andere Kernmaßnahmen – Abschaffung der gerade erst erhöhten Sozialversicherung für Arbeitgeber und Arbeitnehmer (NI) sowie der Stopp für Erhöhungen der Unternehmenssteuer – seit Tagen in den Medien ausposaunt worden.

Mit der schlechten Kommunikation und der Entscheidung, sein Steuerpaket nicht wie üblich von der Budgetbehörde OBR prüfen zu lassen, hat Kwarteng die Märkte verprellt. Alle Augen richten sich jetzt auf die zuletzt zögerlich agierende Zentralbank. (Sebastian Borger aus London, 26.9.2022)