"Vielleicht wird es das": Radiodirektorin Ingrid Thurnher über eine mögliche Zukunft von FM4 als junges Ö3.

Robert Newald

Kommende Woche schon wird FM4 ein bisschen anders klingen – tägliche Comedy zu Mittag, ein Tagesmagazin am frühen Abend etwa. Doch wenn die nächsten Studien die Überlegungen der ORF-Radiodirektorin Ingrid Thurnher bestätigen, könnte der Alternative-Sender bis Sommer 2023 sehr anders werden. Im STANDARD-Interview sagt Thurnher auf die Frage nach FM4 als künftig jungem Ö3: "Vielleicht wird es das."

Die Pläne und Ideen der langjährigen Journalistin und nunmehrigen ORF-Managerin für Ö1, Ö3 und FM4 im STANDARD-Gespräch:

FM4-Zukunft Im ersten Halbjahr 2023 will sie mit einer neuen Marktstudie entscheiden, ob Ö3 jünger werden soll – oder ob FM4 zu einem "jungen Ö3" wird, als Flankenschutz des breiten und sehr werbestarken Ö3. Diesen Montag startet FM4 eine kleine Programmreform – vor allem im Tagesprogramm (unten).

Mehr Wort, weniger Musik auf Ö1 "Mehr Content, weniger Köchel-Verzeichnis" kündigt Thurnher für Ö1 an. In der Früh wird "Guten Morgen Österreich" nach STANDARD-Infos zu "Guten Morgen mit Ö1" mit weniger Moderatorinnen und Moderatoren als bisher – und mehr integrierten Wortsendungen wie Digital Leben, Wissenschaft, Kultur.

Ein Sparprogramm für Ö1 stellt parallel viele Sendungen infrage – wie nach dem Interview bei einer Klausur am Freitag bekannt wurde, von "Radiohund Rudi" bis "Zeit-Ton" und "Kunst-Radio", von "Moment am Sonntag" bis "Jazznacht".

Neuer Chef für Ö3? Nach STANDARD-Infos könnte Georg Spatt, seit 20 Jahren Ö3-Chef, auf Sicht einen neuen Job als Koordinator der Radioflotte bekommen. Kolportierter Nachfolgekandidat: Michael Pauser, nach 25 Jahren Ö3 etwa als Ressortleiter Programm nun Büroleiter des ORF-Technikdirektors. Thurnher kommentiert diese Personalspekulationen ebenso wenig wie die Nachfolgefrage für Ö1-Chef Martin Bernhofer.

"Ich hätte gerne, dass wir im ORF ein Radioangebot für alle haben. Wir haben das derzeit nicht in einem Ausmaß, wie ich mir das vorstelle": Radiodirektorin Ingrid Thurnher im STANDARD-Interview.
Robert Newald

"Radioangebot für alle" – mit Lücken

STANDARD: Sie sind jetzt neun Monate Radiodirektorin, haben Studien beauftragt: Was haben Sie jetzt mit den ORF-Radios vor, was machen Sie jetzt?

Thurnher: Die große Frage in einem Satz beantwortet: Ich hätte gerne, dass wir im ORF ein Radioangebot für alle haben. Unsere Music-Mapping-Studie hat gezeigt: Wir haben das derzeit nicht in einem Ausmaß, wie ich mir das vorstelle.

STANDARD: Was fehlt?

Thurnher: Um den heutigen Radiomarkt zu beurteilen, muss man sich auch den Hörgewohnheiten der Menschen näher zuwenden. Das tun wir mit einer sogenannten Audiomarkt-Studie, mit der wir erheben wollen: Wann hören die Menschen warum welches Radio, welche Angebote, was verbinden sie damit, was erwarten sie davon? Aus dieser Studie erhoffen wir uns Aufschluss, womit wir es auf dem Audiomarkt zu tun haben – also nicht nur Radio, sondern auch Streaming wie Spotify.

STANDARD: Der ORF wird doch nicht erst 2022 erheben, wie viele Menschen streamen statt Radio zu hören? Rund 30 Prozent des Audiokonsums sollen auf Streaming entfallen, bei den Jungen an die 50 Prozent.

Thurnher: Bei den 14- bis 29-Jährigen nutzen 36 Prozent täglich Spotify. Uns interessieren hier aber die Gewohnheiten, wie die Menschen Radio hören, was sie sich eigentlich erwarten. Wieso drehen sie in der Früh das Radio auf? Die Audiomarktstudie wird uns auch sagen: Welche Zielgruppen erreichen wir mit unseren klassischen Radioangeboten tatsächlich? Es ist einfach nicht wahr, dass junge Leute kein lineares Fernsehen konsumieren, und es ist ebenso wenig wahr, dass sie kein lineares Radio konsumieren.

"Wenn sich zwei Angebote in der Zielgruppe so stark überschneiden, dann sollte einem das zu denken geben, ob das so sinnvoll ist."

STANDARD: Sie haben eingangs gesagt: Der ORF hat derzeit kein Radio-Angebot für alle in einem Ausmaß, wie Sie sich das vorstellen. Wen erreichen Sie denn nicht oder zu wenig? Wo gibt es Lücken?

Thurnher: Ich glaube, wir erreichen manche Zielgruppen teilweise doppelt. Zum Beispiel erreichen wir mit FM4 und Ö1 Zielgruppen, die besonders gebildet sind, eher urban geprägt, meistens auch männlich. Das zeigt uns schon, dass wir auf der anderen Seite nicht alle Leute im nötigen Ausmaß erreichen. Wenn sich zwei Angebote in der Zielgruppe so stark überschneiden, dann sollte einem das zu denken geben, ob das so sinnvoll ist.

STANDARD: Also fehlt ein Angebot für nicht ganz so gebildete, jüngere Menschen …

Thurnher: … vielleicht auch urban. Auf dem Land ist Ö3 sehr stark vertreten. Aber bei den städtischen Menschen könnten wir noch ein Publikum finden. Das Leben wäre viel leichter, wenn wir mit einer Digitalnovelle des ORF-Gesetzes mehr dürften. Diese Gruppen erreicht man auf anderen Wegen, in den sozialen Medien. Wenn wir da Angebote machen dürften, wäre das großartig. Die UKW-Wellen sind endlich.

STANDARD: Was tun ohne Digitalnovelle? Wie wollen Sie diese Zielgruppen erreichen?

Thurnher: Die Antwort darauf kommt der Quadratur eines Kreises nahe. Die Digitalnovelle muss kommen. Aber was es jetzt zu tun gilt, und da haben wir vor zwei Wochen den Startschuss dazu gegeben: Wir schauen uns die Flottenstrategie der ORF-Radios ganz genau an. Der nächste Input, den wir dafür brauchen, ist die Audiomarktstudie. Sie wird Antworten liefern, mit welchen Zielgruppen wir wo hineingehen. Und dann muss man Entscheidungen treffen: Was sind Angebote, die man auf welchen Sendern wo ausspielt? Ich glaube, man sollte da auch ausprobieren.

STANDARD: Zum Beispiel was?

Thurnher: FM4 startet am Montag ein neues Tagesprogramm. Ohne dass wir schon eine große flottenstrategische Entscheidung getroffen haben, hat die neue Senderchefin Doroteja Gradištanac gesagt: Wir brauchen ein durchhörbareres Programm. Wir brauchen eine stärkere Musikrotation, auch in der Musikfarbe, in der FM4 zu Hause ist. Damit die Menschen mehr Wiedererkennung haben, der Sender die Zielgruppen besser halten kann. Vielleicht braucht man in FM4 auch ein bisschen weniger Ö1. Mehr Musik untertags zum Beispiel, ein Roundup des Tages am frühen Abend. Das ist, unabhängig von der Arbeit an der Flottenstrategie, ein guter Schritt. Und dann werden wir vielleicht da mal ein paar Sachen ausprobieren.

STANDARD: Nämlich?

Thurnher: Ich will hier noch nicht konkret werden, bevor wir unsere Flottenstrategie entwickelt haben. Mit der Entscheidung über die Flottenstrategie werden wir uns vielleicht bei FM4 etwas trauen. Ein Beispiel von Radio Bremen, und ich sage dazu, das ist kein Plan für FM4: Die haben buchstäblich Leute von der Straße ins Studio geholt und ein goschertes Radioformat, ganz einfache Ansprache ausprobiert. Wo, wenn nicht in FM4, soll man etwas ausprobieren?

STANDARD: Ein Thema für die ORF-Radioflotte, etwa auch unter ORF-Stiftungsräten, ist seit vielen Jahren aber kein Experimentierfeld auf FM4, sondern: Dem ORF fehle ein junges Ö3.

Thurnher: Vielleicht wird es das. Das weiß man nicht. Irgendwann werden wir uns entscheiden, ob das der richtige Weg ist. Eines ist klar: Ö3 deckt eine riesige Bandbreite ab.

"Entweder es wird Ö3 jünger und die Landesstudios schließen beim älteren Publikum an. Oder Ö3 ist die große, breite Radiomarke, die bis 50 den Markt abdeckt, und es gibt unten dran ein jüngeres Ö3."

STANDARD: Ö3 hat eine große Breite in seiner Hörerschaft, die Bundesländerradios des ORF spielen in seine älteren Zielgruppen hinein. Und bei jüngeren Zielgruppen fehle ein Angebot, sagen Stiftungsräte.

Thurnher: Wir müssen um die Problematik nicht herumreden. Jetzt gibt es zwei Möglichkeiten, und darüber werden wir im Laufe des ersten Halbjahres 2023 entscheiden: Entweder es wird Ö3 jünger und die Landesstudios schließen beim älteren Publikum an. Oder Ö3 ist die große, breite Radiomarke, die bis 50 den Markt abdeckt, und es gibt unten dran ein jüngeres Ö3. Und jetzt sagen Sie mir: Wie soll sich ein junges Ö3 anhören?

STANDARD: Wie Kronehit vielleicht?

Thurnher: Glauben Sie? Das ist nicht extrem jünger als Ö3.

STANDARD: Nach meinem Wissen greift Kronehit Ö3 recht erfolgreich von unten – also jüngeren Zielgruppen – her an.

Thurnher: Die sind nicht so viel anders als Ö3. Sie machen keine so andere Musik. Sie erzählen nur dazwischen nichts. Ich weiß nicht, was da jetzt das große Asset wäre.

STANDARD: Ein respektabler Erfolg, wirtschaftlich und beim Publikum.

Thurnher: Wir reden von 20 Prozentpunkten Unterschied im Marktanteil.

STANDARD: Sagen Sie es mir: Wie hört sich ein jüngeres Ö3 an?

Thurnher: Das werden wir dann sehen, wenn wir die Audiomarktstudie haben: Was wollen denn junge Leute im Radio gerne hören?

"Die FM4-Community wird man nicht verlieren", erwartet Radiodirektorin Ingrid Thurnher.
Robert Newald

STANDARD: Was passiert dann mit der treuen FM4-Community?

Thurnher: Die wird man nicht verlieren. Die Frage ist nur: Brauchen die ein 24/7-Angebot oder hören die nur abends FM4? Kann der Sender nicht verschiedene Zielgruppen zu unterschiedlichen Zeiten bedienen?

STANDARD: Ein Problem eines jungen Ö3 auf FM4 könnte sein: Laut Gesetz muss dieser Sender überwiegend fremdsprachig senden.

Thurnher: Ich glaube nicht, dass Kids das Fremdsprachige abschreckt – Englisch ist so präsent überall. Wir könnten aber auch eine Balkan-Night auf FM4 spielen. Warum soll man dort nicht einmal was ausprobieren?

STANDARD: Haben Sie keine Sorge, eine Marke wie FM4 aufzugeben – oder zu überdehnen?

Thurnher: Was würden Sie denn hören, wenn es FM4 nicht mehr gäbe?

STANDARD: Ich höre auch Ö1.

Thurnher: Dann bleiben Sie eh bei uns.

STANDARD: Das heißt, Ö1 wird jünger und spielt mehr Alternative?

Thurnher: Nein. Man muss sich das wirklich überlegen, ob sich das den ganzen Tag so anhören muss. Ob der Sender nicht ein sehr digitalaffines Publikum hat, das sich seine Programme auch über die "Sound"-App holt, gezielt das, was sie sich von FM4 erwarten. Das heißt ja nicht, dass FM4 nicht einen Teil des Tages genau diese Programme spielt.

STANDARD: Das heißt: FM4 könnte beispielsweise künftig untertags ein junges Ö3 sein – und abends die gewohnte FM4-Tonalität haben, und vielleicht gibt es auf der neuen "Sound"-App des ORF mehr aus der FM4-Welt, sofern der ORF mit einer Digitalnovelle auch eigens dafür programmieren darf.

Thurnher: Ob der ORF dann rein digital weitere Kanäle betreiben kann, kann ich nicht absehen. Aber ein Zusatzangebot auf Abruf kann ich mir vorstellen. Da hätten wir Sie auch an Bord.

STANDARD: Endlich rund um die Uhr "La Boum de luxe" und "Davidecks".

Thurnher: Aber jetzt warten wir einmal ab, welche Erkenntnisse über Publikumsinteressen die Audiomarktstudie liefert.

"Ich hätte gerne in der Früh auf Ö1 mehr Content, weniger Köchel-Verzeichnis."

STANDARD: Wir wechseln zu Ö1. Dort liefern die Info-Journale Reichweitenspitzen, und dazwischen geht es wieder sehr stark talwärts mit den Hörerinnenzahlen. Was machen Sie damit? Ein Inforadio?

Thurnher: Das wäre toll (lacht). Nein, ich schaue mir zwar bald einmal aus Interesse BR24 in Bayern an. Das ist aber nicht unser Thema. Die Darstellung ist ein bisschen verkürzt, es sind die Wortinhalte insgesamt bei Ö1 erfolgreich – "Radiokolleg" oder Kurzformate wie "Betrifft: Geschichte". Ich verrate nicht allzu viel, wenn ich sage: Die würde ich gerne stärken, vor allem zur Radio-Primetime. Das entwickeln wir gerade mit den Redaktionen. Der Ukraine-Krieg hat es deutlich gezeigt: Um 7.30 Uhr auf einmal vom "Journal" zur Musik zu wechseln erscheint mir nicht mehr passend. Ich hätte gerne in der Früh mehr Content, weniger Köchel-Verzeichnis.

STANDARD: Wird das ein Morgenjournal von 6 bis 8.30 Uhr?

Thurnher: Es wird nicht alles aus der Information kommen. Da gibt es Wissenschaft, Kultur, digitales Leben – all diese Bereiche sollten in der Frühschiene einen Platz haben. Das entwickeln wir gerade.

STANDARD: Das kommt aber nicht schon nächste Woche wie der neue FM4-Tag?

Thurnher: Lange wird es nicht mehr dauern.

STANDARD: Die Morgensendung zwischen den Journalen heißt offenbar nicht mehr lange "Guten Morgen Österreich", sondern "Guten Morgen mit Ö1", oder?

Thurnher: Das kann ich jetzt nicht spoilern. Warten Sie ab.

STANDARD: Im "Guten Morgen" soll künftig ein "Starprinzip" gelten mit vier statt bisher elf abwechselnden Moderatorinnen und Moderatoren.

Thurnher: Das Publikum erwartet, dass es von einer Stimme länger begleitet wird. Und ich fände es schön, wenn mir die ganze Woche dieselbe Person in der Früh auf Ö1 begegnen würde.

STANDARD: Und wer ist der oder die Hary Raithofer von Ö1?

Thurnher: Das ist bei Ö3 schon länger Robert Kratky. Schon eine Weile nicht mehr Ö3 gehört?

STANDARD: Zugegeben, danke für das Update. Wie geht es nach dem wortlastigeren Morgen mit Journalen, Kultur, Wissenschaft, digital leben weiter? "Punkt eins" hätten Sie gerne aktueller.

Thurnher: "Punkt eins" ist auch ein großes Anliegen von mir. Am liebsten wäre mir für diese einzige aktuelle Phone-in-Sendung eine Orientierung an möglichst tagesaktuellen Themen. Ich weiß, das verlangt der Redaktion viel ab. Aber eine Vertiefung gleich nach dem "Mittagsjournal" ist so logisch. Ein bisschen wie ein täglicher "Runder Tisch" mit Publikumsbeteiligung.

"Man muss sich an der Stelle entscheiden: Wo setzen wir Schwerpunkte, in die Ressourcen fließen, während man anderswo nachgeben muss."

STANDARD: Apropos abverlangen: Bei Ö1 soll es gerade noch bis zu 1,7 Millionen Euro Sparbedarf geben. Zugleich soll es etwa künftig bei FM4 am Wochenende keine deutschsprachigen Nachrichten mehr geben, weil die Radio-Newsredaktion schon tausende Überstunden angesammelt habe.

Thurnher: Wir sind gerade mitten in den Budgetgesprächen. Das ist noch eine sehr spannende Herausforderung. Das können wir nur gemeinsam schaffen. Man muss sich an der Stelle entscheiden: Wo setzen wir Schwerpunkte, in die Ressourcen fließen, während man anderswo nachgeben muss.

STANDARD: Beim Köchel-Verzeichnis, also Musiksendungen?

Thurnher: Mein Schwerpunkt ist ganz klar in der Radio-Primetime auf Ö1 am Morgen beim Wortinhalt. Natürlich hat Ö1 als Info- und Kultursender auch eine Aufgabe als Kulturproduzent. Das ist eine wirkliche Funktion von Ö1, die wir nicht aufgeben dürfen. Aber vielleicht geht nicht mehr alles, was bisher gegangen ist.

"Mehr als 60 Privatsender müssen dafür zusammenlegen, damit es sich knapp ausgeht": Thurnher über höhere Marktanteile für Private als Ö3 beim Publikum unter 50.
Robert Newald

STANDARD: Und wie geht es jetzt mit Ö3 weiter? Der erste Radiotest als zuständige Direktorin hat gleich einmal Ö3 hinter die Privatsender – gemeinsam – zurückfallen lassen.

Thurnher: Mehr als 60 Privatsender müssen dafür zusammenlegen, damit es sich knapp ausgeht – nur um die Kirche im Dorf zu lassen. Wenn man sich die Radiotest-Ergebnisse nicht nur punktuell ansieht, erkennt man: Wir sind ungefähr wieder auf einer Flughöhe wie 2017 vor Ibiza, vor Wahlen am laufenden Band, der Pandemie … Es ist jetzt kein großer Alarmschrei angebracht. Aber wir brauchen Maßnahmen, um Ö3 abzusichern. Das ist unser größtes Angebot und das wichtigste Angebot. Das geht nur, wenn wir klar definieren, welcher Sender was leisten muss, um insgesamt Radio für alle zu machen.

STANDARD: Oliver Böhm, der Chef der ORF-Werbevermarktung Enterprise, könnte das mit dem Alarmzeichen ein bisschen anders sehen. Die neue Datenlage könnten den ORF zehn Millionen Euro kosten, höre ich. Das wäre beinahe ein Fünftel der Ö3-Werbeumsätze – und ein Sechstel der ORF-Radiowerbeumsätze.

Thurnher: So viel habe ich nicht gehört, aber ja, es ist viel Geld. Deshalb müssen wir rasch handeln. Die Dringlichkeit ist uns bewusst. Aber angesichts der Weltlage ist die Entwicklung des Werbemarkts insgesamt die größere Sorge.

STANDARD: Wann wird dieses Ö3 neu zu hören sein?

Thurnher: Vielleicht muss Ö3 gar nicht neu sein, vielleicht muss alles andere neu sein. Das ist jetzt eben die Frage. Wir wollen im ersten Halbjahr die Prozesse entscheidungsreif haben.

STANDARD: Das heißt wohl: Mitte 2023 für das Publikum zu hören.

Thurnher: Das hoffe ich doch. Wir arbeiten intensiv daran. Man könnte ein ganz anderes FM4 ja nicht einfach so machen, das müsste man empirisch absichern.

STANDARD: Ist dann Mitte 2023 Georg Spatt noch Ö3-Chef – er könnte nach unseren Informationen so etwas wie ein Koordinator der ORF-Radioflotte werden. Und ist dann womöglich Michael Pauser, früher Ö3 und nun in der Technikdirektion des ORF, neuer Ö3-Chef?

Thurnher: Wir konzentrieren uns jetzt auf die Positionierung und exakte Abstimmung unserer Senderflotte.

STANDARD: Einen Ö1-Chef werden Sie in spätestens zwei Jahren auch brauchen, wenn Martin Bernhofer in Pension geht – oder vielleicht wieder einmal eine Ö1-Chefin*.

Thurnher: Wir haben schon eine Senderchefin bei FM4, und ich bin auch eine Frau. Und wir haben mit Angelika Möser gerade eine topqualifizierte Frau als künstlerische Leiterin für das Radio-Symphonieorchester engagiert, was mich extrem freut.

"Machen wir ein Programm, das viele erreicht, oder fühlen sich Menschen auch abgeschreckt? Andere Motive sind in meiner Entscheidungsfindung nicht präsent. Man kann immer etwas hineininterpretieren. Meine Gedanken beseelt das gar nicht."

STANDARD: Wenn Sie FM4 deutlich verändern – müssen Sie nicht damit rechnen, dass man Ihnen politische Motive dafür nachsagt? Die angekündigte Reduktion von Textangeboten auf ORF.at wird – etwa von "Falter"-Chefredakteur Armin Thurnher – als gezielte Zerstörung eines kritischen Mediums interpretiert, und das im Sinne der Regierungspartei ÖVP. Das ließe sich bei FM4 auch als Versuch interpretieren – womöglich aus bürgerlicher Sicht: – "linke Gfraster" bei FM4 loszuwerden.

Thurnher: Das wäre mir zu FM4 gar nicht eingefallen. Ich habe darauf einen ganz anderen Blickwinkel. Ich denke immer aus der Sicht des Publikums. Und ich weiß schon, man muss auch Stakeholder-Gruppen und viele andere immer im Auge haben. Aber ich denke mir: Was erwartet das Publikum von uns, was erwarten die Menschen, die Gebühren zahlen, von uns? Für die machen wir Programm. Das ist mein erster Fokus. Machen wir ein Programm, das viele erreicht, oder fühlen sich Menschen auch abgeschreckt? Andere Motive sind in meiner Entscheidungsfindung nicht präsent. Man kann immer etwas hineininterpretieren. Meine Gedanken beseelt das gar nicht.

STANDARD: Zum Stichwort viele erreichen muss ich der langjährigen Journalistin Ingrid Thurnher noch eine Frage stellen: Ein Teil der Menschen da draußen meidet klassische Nachrichten und sucht Angebote, die eher ihre Weltsicht bestätigen. Wie erreichen Sie diese Menschen?

Thurnher: Man wird zur Kenntnis nehmen müssen, dass man Teile der Bevölkerung gar nicht mehr erreicht – es sei denn, man macht ihnen ganz gezielt ein Angebot. Es gibt private Sender, die dieses Publikum ganz gezielt anpeilen. Aber gerade deshalb finde ich einen Sender wie Ö3 so wichtig. Ö3 sagt seinen Hörerinnen und Hörern nicht: Achtung, aufgepasst, hier kommt, was du wissen musst! Ö3 ist ein Sender, der die Menschen durch den Tag begleitet – aber es ist, quasi en passant, der größte Info-, Service-, Breaking-News-Sender, den wir haben. In dieser Verpackung kann man die Leute vielleicht eher mitnehmen als dort, wo eine große Signation ankündigt: Jetzt wirst du informiert! Das, glaube ich, ist die wichtigste Funktion von Ö3. Das große verbindende Element zu sein.

"Vor allem junges Publikum will nicht so viel – ich zitiere – "Gequatsche". Motto: "Mehr gute Laune, weniger Gequatsche.""

STANDARD: Aber könnte man bei Ö3 nicht mehr Menschen erreichen mit weniger Wort?

Thurnher: Das sagt uns die Musik-Mapping-Studie: Vor allem junges Publikum will nicht so viel – ich zitiere – "Gequatsche". Motto: "Mehr gute Laune, weniger Gequatsche." Aber andererseits achtet die veröffentlichte Meinung akribisch darauf, dass die Ö3-Nachrichten ja nicht kürzer werden. Das halte ich für eine Fehlkalkulation: Der eigentliche Nutzen von Ö3 kommt aus der Fläche. Und wenn die Nachrichten zur vollen Stunde ein bisschen kürzer wären, aber in der Fläche verteilt immer wieder Informationshappen zu hören sind, würden die Menschen vielleicht länger bei uns bleiben. Information ist nicht nur Nachricht – das ist auch Service, Lebenshilfe, gesellschaftlicher Zusammenhalt, Community-Building. Das kann Ö3 auch in einer anderen Form liefern als in fünf Minuten Nachrichten um Punkt.

STANDARD: Ist das jetzt die Ankündigung, dass die Ö3-Nachrichten kürzer werden?

Thurner: Nein, die sind eh schon kurz. Die Mapping-Studie sagt: Die Leute wollen mehr Musik. Aber da kommen wir auch an einen Punkt: Wer nur noch Musik hören will, ist wahrscheinlich schon bei Spotify.

STANDARD: Wie soll das ORF-Radio 2026 aussehen nach Ihrer ersten Amtszeit als Radiodirektorin? Vermutlich Radio für alle, nach Möglichkeit. Und genauer?

Thurnher: Ich würde gerne auch Radioangebote für andere Gruppen machen können. Wir haben etwa für Kinder relativ wenig Angebot. Das könnte man digital sicher leisten. Ich will die Marktanteile halten, am liebsten ausbauen. Die Stärke des Radios als unverzichtbares Medium des Tages soll erhalten bleiben. Dafür muss sich, glaube ich, vieles verändern.

"Natürlich muss sich niemand um Ö1 Sorgen machen. Wir werden sicher nicht Ö3 schwächen – so ein wichtiges Breitenangebot. Und wir werden sicher nicht FM4 schwächen – im Gegenteil, es kann sich etwas trauen."

STANDARD: ORF-Generaldirektor Roland Weißmann hat gerade – auf Anfrage im Publikumsrat – gesagt: Um Ö1 muss man sich keine Sorgen machen. Muss man sich um andere Sender sorgen, etwa FM4?

Thurnher: Nein, ganz im Gegenteil. Wir haben drei nationale Wellen und neun Landesstudios. Wir müssen nur schauen, sie so aufzustellen, dass wir möglichst viele Leute erreichen. Das ist nicht ganz einfach, aber das ist unser Job. Und natürlich muss sich niemand um Ö1 Sorgen machen, das ist einer der erfolgreichsten Kultur- und Informationssender in Europa. Den zu schwächen wäre totaler Quatsch. Und wir werden sicher nicht Ö3 schwächen – so ein wichtiges Breitenangebot. Und wir werden sicher nicht FM4 schwächen – im Gegenteil, es kann sich etwas trauen.

STANDARD: Ist die neue ORF-App "Sounds" nicht ein Widerspruch zur Markenstrategie, zur Flottenstrategie im Radio? Dort haben sich Senderidentitäten weitgehend aufgelöst in Themen.

Thurnher: Das ist hier genau das Ziel – Leute zu erreichen, die nicht allein nach einem Sender suchen, sondern nach Inhalten, kuratiert von einer kleinen Redaktion. Die App sieht auch anders aus alle anderen Onlineangebote des ORF bisher. Sie hat als Erste das neue Design für künftige ORF-Onlineangebote. (Harald Fidler, Oliver Mark, 30.9.2022)