Irem Gökçen als Patientin im Wartezimmer.

Marcel Urlaub/Volkstheater

Die seifenopernhafte Musik (von der TV-Serie Schwarzwaldklinik geborgt) und die an einen Nachtclub erinnernde Leuchtschrift "Notaufnahme" täuschen. Arztserien sind seit Jahrzehnten populärer Fernsehstoff. Von Emergency Room über Dr. House bis Grey’s Anatomy lassen sie zwischen Leben und Tod noch Raum für allzu Menschliches. Götter in Weiß sind schon zu Sexsymbolen geworden.

Liebe und Intrige? Nein, Wien’s Anatomy ist anders. Die aktuelle Bezirkeproduktion des Wiener Volkstheaters dreht sich um harte medizinische Fakten. Regisseurin Karen Breece hat dafür zwei Jahre lang mit an ME/CFS leidenden Patienten gesprochen. ME/CFS ist eine seltene neuroimmunologische Multisystemerkrankung, die schon bei geringer Belastung oder leicht eintretender sensorischer Überreizung zu körperlicher Schwäche, Schmerzen, Schwindel, Infekten, Konzentrationsstörungen und mehr führt.

"Selten" heißt im Fall von ME/CFS aber nicht nur wenig geläufig, sondern auch wenig erforscht. Zahlen werden eingeblendet. Und daraus folgt auch, dass Patienten wenig Verständnis erwarten dürfen.

Breece hat in ihrer Recherche auch mit Ärzten und Angehörigen gesprochen. Wien’s Anatomy ist weniger ein Stück als eine aktivistische Wiedergabe der Ergebnisse. Neben Schauspielern treten auch Betroffene auf. Nathalie schildert, wie sie immer wieder krankgeschrieben werden musste. Doch von Arbeitgebern wie von Kollegen gab es keine Unterstützung, sondern Druck.

Enttäuscht und überfordert

Druck kennt auch der Pflegefachassistent Martin. Er bringt die Situation des heimischen Gesundheitssystems generell aufs Tapet, erzählt von miesen Arbeitsbedingungen, Überlastung, zeigt Fotos von mangels genug Personal wundgelegenen Körperteilen.

Werner Strenger und Martina Spitzer spielen ein Ärztepaar, das wegen der Arbeitsbedingungen im Kassensystem hingeschmissen hat und nun eine Wahlarztpraxis betreibt. Strenger und Spitzer geben auch Eltern, deren Tochter (Irem Gökçen) an ME/CFS leidet.

Als Theaterstück zieht das alles nicht wirklich, als Bestandsaufnahme bereitet es einem aber Kopfzerbrechen. Man sieht nach eineinhalb Stunden betroffen den Vorhang zu, doch viele Fragen bleiben offen. (Michael Wurmitzer, 3.10.2022)