Am Vorabend des 70. Geburtstages Wladimir Putins, des seit mehr als 20 Jahren amtierenden russischen Alleinherrschers, spekuliert die Welt über die Bedeutung seiner Worte, die Drohung mit dem Nukleararsenal sei "kein Bluff".

Die Warnung zielte auf die Ukraine und ihre Unterstützer, vor allem die Vereinigten Staaten und Deutschland. Seitdem diskutieren Militärexperten und Kommentatoren über die Folgen eines Erstschlages mit taktischen Atomwaffen und die mögliche Reaktion des Westens. Der US-amerikanische Starkolumnist Thomas L. Friedman warnte in der New York Times, solange Putin an der Macht bleibe, müsse der Westen mit einem gigantischen russischen Nordkorea, mit einem paranoiden, wütenden, isolierten Staat im Besitz von tausenden Atomwaffen zusammenleben.

Mit großem Pomp wurde die völkerrechtswidrige Annexion ukrainischer Regionen gefeiert.
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Die Mobilmachung der Reservisten und die Massenflucht von mehr als 260.000 jungen Männern vor dem Hintergrund der militärischen Erfolge der ukrainischen Seite – ausgerechnet in den mit großem Pomp völkerrechtswidrig annektierten ukrainischen Regionen – zeigen, dass aus der am 24. Februar lancierten "militärischen Spezialoperation" ein Existenzkampf des Putin-Regimes geworden ist.

In diesem Ringen mit dem Aggressor, der den Kampfgeist der Ukrainer unterschätzt hatte, spielt die Glaubwürdigkeit der geschlossenen Unterstützung des Westens für die Ukrainer eine zentrale Rolle. Bemerkenswert ist die ungebrochene überwältigende Hilfsbereitschaft und Solidarität der Polen, aber auch der baltischen Staaten.

Sanktionsfront

Wohl als Antwort auf die Erpressungstaktik Moskaus lehnten am Wochenende die Staatspräsidenten der Slowakei, Tschechiens, Estlands, Litauens, Lettlands, Polens, Rumäniens, Nordmazedoniens und Montenegros die Annexion der ostukrainischen Regionen ab, forderten verstärkte militärische Unterstützung für die Ukraine und den Rückzug der russischen Truppen aus den besetzten Gebieten. Dass die Unterschrift der ungarischen Präsidentin Katalin Novák auf der Liste fehlt, ist ein symbolträchtiges Zeichen für den russlandfreundlichen Kurs Viktor Orbáns, der das Ende der Sanktionen fordert und alles tut, um die Geschlossenheit der EU zu untergraben.

Er ist nicht allein. Auch die Präsidenten der EU-Staaten Bulgariens und Kroatiens, General Rumen Radew und Zoran Milanović, gelten als russlandfreundlich. Man darf auch die zerstörerische Rolle der langjährigen engen Putin-Freunde – des Präsidenten Aleksandar Vučić und des bosnischen Serbenführers Milorad Dodik – in der Balkanpolitik nicht unterschätzen; Dodik hatte einige Tage vor den bosnischen Wahlen sogar einen Solidaritätsbesuch bei Putin absolviert.

Es muss abgewartet werden, ob die neue italienische Regierung aus der Sanktionsfront gegen Russland ausscheren wird. Eine Schlüsselfrage bleibt, ob die deutsche Ampelregierung, vor allem der sozialdemokratische Bundeskanzler Olaf Scholz, aus Angst vor der nuklearen Eskalationsspirale bei den Waffenlieferungen für die überfallene Ukraine, wie von einem Leitartikel im Spiegel schon gefordert und von Putin wohl einkalkuliert, "ab sofort Zurückhaltung üben" und im Gegensatz zum grünen Koalitionspartner nicht mehr standhaft bleiben wird. (Paul Lendvai, 4.10.2022)