Der Titelverteidiger will den Prognosen nicht trauen. In jedem Interview würde Alexander Van der Bellen am liebsten einen Wahlaufruf unterbringen – auf dass ihm dank einer absoluten Mehrheit im ersten Durchgang eine Stichwahl erspart bleibt. Das Staatsoberhaupt weiß: Die Verlockung, am Sonntag daheimzubleiben, ist groß.

Das liegt nicht nur an den Umfragen, die den Ex-Grünen-Chef als sicheren Sieger ausweisen. Dem Bundespräsidenten hängt der Ruf des ehrsamen, aber machtlosen Frühstücksdirektors nach. Allenfalls nahmen sich Amtsinhaber heraus, den einen oder anderen allzu rabiaten Rechtsausleger als Minister abzulehnen. Die meiste Zeit jedoch blieb es bei wirkungsarmen Mahnungen an die Moral der tatsächlich Regierenden. Es ist also nicht tragisch, könnte man meinen, da eine Wahl zu verpassen.

Nicht zur Wahl gehen kann sich rächen.
Foto: APA/HANS KLAUS TECHT

Doch hinter dieser Einschätzung steckt ein Trugschluss. Es war das Selbstverständnis der Kirchschlägers, Fischers oder Van der Bellens, das sie zu politischen Nebenfiguren werden ließ, nicht das Amt an sich. Denn tatsächlich bietet die Verfassung dem Präsidenten starke Instrumente an – von der Entlassung der Regierung bis zur Auflösung des Nationalrats.

Glücklicherweise setzt das auf Checks and Balances ausgerichtete Regelwerk etwaigen Alleingängen Grenzen. Doch zum Chaosstiften reichen die Möglichkeiten allemal. Wer es darauf anlegt, kann dieses Arsenal gezielt zur Diskreditierung der demokratischen Institutionen einsetzen.

Vertrauensvorschuss

Es ist nicht gesagt, dass solche Obstruktion zwangsläufig auf die Urheber zurückfällt. Der Nimbus des Staatsoberhauptes bringt einen großen Vertrauensvorschuss mit sich. Ein geschickter Populist kann mit einem entsprechenden Medienspektakel die Deutungshoheit an sich reißen – denn wer vertraut heutzutage noch Parteien? Ist das Klima erst aufbereitet, kann allein schon die Drohung mit der Entlassung ein Hebel sein, um Wünsche in der Regierung durchzusetzen.

Angesichts der über Jahrzehnte fast lückenlos gelebten Tradition der Zurückhaltung mag das alarmistisch klingen. Doch wer hat einst damit gerechnet, dass eine Figur wie Donald Trump tatsächlich die USA anführen wird?

Van der Bellens Herausforderer sollten deshalb nicht leichtfertig als Maulhelden abgetan werden. Bei der Wahl geht es nicht nur um die Frage, ob eine herzeigbare Person den Staat repräsentiert, sondern auch um eine Richtungsentscheidung. Der Amtsinhaber steht für den alten Weg. Wer aber ein Staatsoberhaupt will, das der Regierung öfter in die Parade fährt, findet ein üppiges Alternativangebot – in vielen Schattierungen. So bedrohlich manche Ankündigung klingen mag: Grundsätzlich ist der Ruf nach einem Kurswechsel legitim, weil von der Verfassung gedeckt.

Kaum etwas spricht dafür, dass es diesmal zu einer solchen Revolution kommt. Doch einlullen lassen sollten sich Van-der-Bellen-Anhänger nicht. Ihr Favorit wird am Sonntag zwar voraussichtlich klar voranliegen. Zwingt ihn der FPÖ-Kandidat Walter Rosenkranz aber in eine Stichwahl, wird die Lage gleich viel ausgeglichener. Denn dann ist der Herausforderer die Konkurrenz im rechten Lager los – und hat gute Chancen, verwaiste Stimmen abzuräumen.

Selbst bei dieser scheinbar so eindeutigen Wahl gilt deshalb für alle Seiten: Nicht hingehen kann sich rächen. (Gerald John, 8.10.2022)