Johannes Wielands Tanzstück "Neuzeit" im Musiktheater Linz.

Foto: Laurent Ziegler.

Sie schiebt das Gestern ins Morgen, sie erstarrt, bricht auf und reißt in verschiedene Richtungen aus. Eine Spekulation über die Zeit riskiert der deutsche Choreograf Johannes Wieland in seinem Stück Neuzeit, dessen Uraufführung am Samstag im Musiktheater Linz stattfand. Ebenfalls am Wochenende hat das Festspielhaus St. Pölten die Einstandsproduktion von Bettina Masuchs Intendanz präsentiert: Das Stück Vlaemsch (chez moi) des Choreografie-Stars Sidi Larbi Cherkaoui.

Thematisch kommen sich die beiden Arbeiten erstaunlich nahe. Cherkaoui führt eine spezielle Sicht auf die belgische Region Flandern im Zeitenwandel vor. Sein Vater immigrierte aus Marokko, aus Belgien stammt die Mutter, der Sohn kam 1976 in Antwerpen zur Welt. Sidi Larbi Cherkaoui ist also ein echter Flame, den die kulturellen Unterschiede in der Familie maßgeblich beeinflusst haben.

Animalische Hominiden

Wieland wiederum ist Berliner mit internationaler Berufserfahrung. Während er das Phänomen Zeit philosophisch aufbereitet, seziert Cherkaoui Flandern als Objekt der Zeitläufte in dessen gegenwärtiger Situation. Da weder Zeit noch Historie linear verlaufen, lassen sich Neuzeit und Vlaemsch (chez moi) wie wechselseitige Kommentare zueinander betrachten. Eine verlockende Sache in unserer Zeitenwende.

Bei Wieland wird der Mensch in einer großen Vitrine (Bühne: Momme Röhrbein) vor eindrucksvoller Naturkulisse ausgestellt – der Mann sitzt starr unter einem Baum, die Frau bewegt sich und kommuniziert mit animalischen Hominiden, die vor dem Schaukasten in quirliger Dynamik eine Evolution durchtanzen, bei der ihnen die Zukunft schon wie ein Kostüm auf die Leiber geschnitten ist.

Das Äquivalent zu Wielands Schaukasten bildet bei Cherkaoui ein großes, vorne aufgerissenes Herrenhaus (Bühne: Hans Op de Beeck) als Symbol für das reiche, kunstdurchtränkte Flandern.

Darin wohnt als Allegorie des Gestern eine alte Dame, deren Sachen im Verlauf des Stücks fortgetragen werden, weil im heutigen Belgien die Kolonialverbrechen des König Leopold II. hervorkommen. Das neue Flandern ist vielfältig und aufgeschlossen, aber von nationalistischer Politik bedrängt – doch ein direkter Crash zwischen dunkler alter Herrlichkeit und schillernder neuer Offenheit bleibt bei Vlaemsch (chez moi) dennoch aus.

Trümmer eines Hauses

In Neuzeit hingegen kracht’s, wenn auch lautlos: Dem ersten, an den Garten Eden erinnernden Schaukasten wird ein weiterer nachgeschoben, der zwei im Moment ihrer Frontalkollision eingefrorene Autos zeigt. In Wielands reißendem Tanz- und Bilderfluss, der von einem Monolog des Schauspielers Horst Heiss gebrochen wird, treibt unsere Krise wie Trümmer eines fortgeschwemmten Hauses.

Neuzeit ist weniger langatmig angelegt als das predigende Vlaemsch (chez moi). Doch inhaltlich geraten der vertrackte Verlauf der Zeit bei Johannes Wieland und die Zersplitterung der historischen Zeitläufte bei Sidi Larbi Cherkaoui einander auf denkbar beste Art ins Gehege. (Helmut Ploebst, 9.10.2022)