Die Inszenierung von Scott Schwartz bietet David Jakobs (als Quasimodo) ausreichend Gelegenheit, seine athletischen Fähigkeiten zu zeigen.

Foto: VBW

Jenes Musical, das am Samstag im Ronacher seine österreichische Erstaufführung erlebte, heißt zwar Der Glöckner von Notre Dame. Allerdings gebührte es eher dem triebgeplagten Geistlichen, Erzdiakon Claude Frollo, dominant im Werktitel aufzuscheinen. Er, der im Disney-Musical als Onkel von Glöckner Quasimodo präsentiert wird, ist die eigentliche, sehr böse treibende Kraft des Stücks, das aus einem Animationsfilm hervorging.

Zur Bestätigung seines Ranges lässt sich der Erzdiakon gerne unterwürfig von Mann und Frau die Hand nassküssen. Nach außen hin scheint er sich nur von Macht, Glaubensstrenge und Hass auf die Gruppe der Roma zu "ernähren". Allein schon diese emotionale Konstellation würde Frollo zum gefährlichen Borderliner werden lassen, der die Handlung dynamisch vorantreibt.

Sexuelles Begehren

"Der Meister", wie der gequälte Quasimodo Onkel Frollo nennt, trägt allerdings – nachdem er Esmeralda erspäht hat – einen Konflikt in sich, der ihn für seine Umwelt erst so richtig zur Gefahr macht. Der brillant singende Andreas Lichtenberg bringt das deutlich zum Ausdruck: In Frollo brodelt der neurotisierende Zwist zwischen sexuellem Begehren und einer von der Lehre verordneten Prüderie.

Bis zur Eskalation dauert es etwas: Der Erzdiakon will Esmeralda zunächst – scheinheilig – zwecks "Seelenrettung" in die Welt der christlichen Glaubenssätze einführen, was sie ablehnt. Später weist Esmeralda auch sein Liebesgeständnis zurück, was ihm ein inneres Waterloo beschert und seine Rachsucht entfacht. Esmeralda, die sich in Hauptmann Phoebus de Martin verguckt hat (solide: Dominik Hees), landet auf dem Scheiterhaufen. Sie hatte ja auch alle als Mischung aus Carmen und Salome schwindelig getanzt. Das kann nur der Teufel choreografiert haben!

Im Glockendienst

Hätte sie nicht der grundgütige Quasimodo, der Esmeralda natürlich ebenfalls verehrt, aus der ungemütlichen Temperatursituation gerettet, die Schöne (etwas brav, aber vokal tadellos: Abla Alaoui) wäre – unter Geschrei der Massen – feuerbedingt zu grauer Asche geworden.

Die Inszenierung des US-Regisseurs Scott Schwartz bietet dem ausgezeichnet singenden David Jakobs (als Quasimodo) ausreichend Gelegenheit, seine athletischen Fähigkeiten in den Glockendienst der Sache zu stellen. In einem das Turminnere von Notre-Dame holzlastig eingefangenen Ambiente wird er allerdings nicht zu übertriebenen Turneffekten gezwungen. Er macht vielmehr markante Wandlungen durch: Vom Sklaven seines Onkels wird er nach und nach zu jener aktiven, integren Figur, die nicht mehr ausschließlich mit den (ihn umgebenden) Steinfiguren plaudert. Vielmehr erkennt Quasimodo die Bösartigkeit des Erzdiakons und emanzipiert sich.

Die Produktion schafft also die Balance zwischen optischem Effekt, kammerspielartigen Szenen der Figurencharakterisierung und massenbewegter Choreografie (Chase Brock). Das Musical, das Victor Hugos (1802–1885) Roman (Originaltitel: Notre-Dame de Paris) auf die Zuneigung dreier Männer zu Esmeralda reduziert, kommt der Regie durch seinen "Bau" entgegen: Die Dramaturgie befeuert das Tempo.

Schlagerroutine

Zudem hat Komponist Alan Menken mit eklektischer Eleganz sakrale Stilistik zu bombastischen Chören mit haften bleibenden melodischen Aphorismen geformt. Das hebt das Niveau. Daneben werden die Szenen natürlich auch mit Schlagerroutine, jazzigen Revue-Reminiszenzen und verkitschtem Flamenco gewürzt, was zumindest auf das gute Handwerk des Orchesters unter Michael Römer verwies.

Damit es nicht zu ernst wird, singt übrigens auch eine Statue ein Lied und verliert dabei immer wieder fast ihren Kopf. Von einem echten Happy End kann allerdings – trotz einer Verklärungsszene am Schluss – keine Rede sein. Esmeralda stirbt, und auch der Böse hat nichts von seiner Rache. Quasimodo schickt Onkel Frollo vom Glockenturm herab in die Tiefe auf jene Reise, von der noch keiner zurückgekehrt ist ...

Nach dem fragwürdigen Bombast von Miss Saigon kann das Stück der Musicalfamilie empfohlen werden. Dann aber bitte Hugos Roman lesen. (Ljubiša Tošić, 9.10.2022)