Der klare Sieg Alexander Van der Bellens gegen sechs Kandidaten inmitten der seit dem Zweiten Weltkrieg, auch international, gefährlichsten Krisensituation (Energiekrise, Inflation, Epidemie, russischer Angriffskrieg) bestätigt das, was Arthur Schnitzler am 3. Jänner 1915 in seinem Tagebuch notiert hat: "Je älter man wird, umso mehr erkennt man, dass es kein fantastischeres Element gibt als die Politik." Der 29 Jahre später in Wien geborene (und in Tirol aufgewachsene) Sohn eines russischen Vaters und einer estnischen Mutter auf der Flucht vor der sowjetischen Armee hat sich bereits in den letzten sechs Jahren als ein Glücksfall für Österreich erwiesen.

Wer hätte das nach dem knappen Wahlresultat vor sechs Jahren gedacht, dass der erst 5o-jährig in die Politik eingestiegene Universitätsprofessor für Nationalökonomie und spätere langjährige Grünen-Parteichef eine in der österreichischen Nachkriegsgeschichte beispiellose Serie von politischen Skandalen, Regierungswechseln, Neuwahlen so souverän und so umsichtig managen würde? Van der Bellens so überzeugende Bestätigung ist ausschließlich sein persönlicher Erfolg.

Bundespräsident Alexander Van der Bellens Bestätigung ist ausschließlich sein persönlicher Erfolg.
Foto: APA/AFP/JOE KLAMAR

Seine Anwesenheit für weitere sechs Jahre in der Hofburg, als Fels in der Brandung, bedeutet nicht nur in der Innenpolitik eine neue Chance. Man übersieht oft, dass der Bundespräsident Österreich nach außen vertritt und Oberbefehlshaber des Bundesheeres ist. Es geht dabei keineswegs nur um das Protokoll, sondern im Sinne der Verfassung auch um Vertretungskompetenz. Deshalb waren die hier bereits hervorgehobenen Grundsatzreden des Bundespräsidenten im Sommer mit Warnungen vor dem russischen Diktator und Appellen für die Solidarität mit der Ukraine so bedeutsam.

Naivität und der Ignoranz

Leider sind die von mir als "rechtzeitige Weckrufe" bezeichneten Worte Van der Bellens weder vom Bundeskanzler noch von der Opposition bisher beachtet worden. Nicht nur Sebastian Kurz fehlte es an einer moralisch glaubwürdigen und staatspolitisch einwandfreien Haltung gegenüber Wladimir Putins Russland, Viktor Orbáns Ungarn und anderen autoritären Regierungen. Auch vor und nach ihm hat man immer wieder bedenkliche Tendenzen des der unprofessionellen Naivität und der Ignoranz entsprungenen Hochmuts beobachten können. Möglicherweise werden erst künftige Historiker feststellen, bei welchen Spitzenpolitikern es sich um geistige Fahrlässigkeit und bei welchen um verdeckte Komplizenschaft handelte.

Diese von einzelnen Spitzenpolitikern und Investoren vertretene Haltung ist politisch brandgefährlich und auch wirtschaftlich schädlich. Alt-Kanzler Franz Vranitzky bezeichnete bei dem Geburtstagsfest an seinem 85. in seiner (von mir krankheitsbedingt versäumten) Rede laut Kurier (6.10.) den gemeinsamen Auftritt Bundeskanzler Karl Nehammers in Budapest mit Orbán und Aleksandar Vučić als "eine Schande". Solche außenpolitischen Fehltritte spielen jenen extremen Politikern von rechts und links in die Hände, die dafür plädieren, vor Putin zu kapitulieren.

Mit der Ausnahme Beate Meinl-Reisingers versagt auch die Opposition. Pamela Rendi-Wagner schweigt, Herbert Kickl unterstützt Putin. Die so klare außenpolitische Linie des Bundespräsidenten sollte endlich von der Regierung respektiert werden. (Paul Lendvai, 10.10.2022)