Journalist Michael Bonvalot wurde bei einer Demo im September von der Polizei abgedrängt und abgestraft.

Foto: David Prokop

Menschen demonstrieren im Rahmen eines angemeldeten Demo-Marschs. Journalistinnen und Journalisten dokumentieren das und berichten darüber. Dazu gehen sie ebenso wie die Demonstrantinnen und Demonstranten auf einer abgesperrten Straße. Über die Berichterstattenden verhängt die Polizei danach aufgrund der unerlaubten Verwendung der Straße eine Verwaltungsstrafe. Unmöglich, sollte man eigentlich meinen. Mitnichten – denn genau das ist dem bekannten Journalisten Michael Bonvalot und seinem Team vor kurzem bei einer Corona-Demo passiert, DER STANDARD berichtete.

Dürfen Journalistinnen und Journalisten, die über eine Demonstration berichten, tatsächlich die Straße nicht betreten, die für die Demonstration und deren Teilnehmerinnen und Teilnehmer gesperrt ist? Natürlich dürfen sie, aber der Reihe nach.

Die Versammlungsfreiheit ist ein Grundrecht und von fundamentaler Bedeutung für das Funktionieren einer Demokratie. Versammlungen finden fast ausschließlich an öffentlichen Orten statt. Demonstrationszüge führen dabei nicht selten über abgesperrte Fahrbahnen. Und das, obwohl § 76 der Straßenverkehrsordnung Fußgängern prinzipiell das Betreten der Fahrbahn verbietet.

Gerade mit Blick auf die Versammlungsfreiheit erachtet der Verfassungsgerichtshof allerdings ein verwaltungsbehördlich an sich strafbares Verhalten als gerechtfertigt, wenn dies für die Durchführung der Versammlung unbedingt notwendig ist. In diesem Sinn hat der Verfassungsgerichtshof etwa schon Strafen aufgehoben, die gegen Demonstrantinnen und Demonstranten wegen des Betretens von Fahrbahnen im Rahmen von Spontankundgebungen ausgesprochen wurden.

Pressefreiheit gleichwertig

Die einen Demonstrationszug begleitenden Journalistinnen und Journalisten sind aber keine Versammlungsteilnehmer und können sich somit auch nicht auf die Versammlungsfreiheit berufen. Allerdings ist auch die Pressefreiheit ein Grundrecht und von gleicher Bedeutung für eine demokratische Gesellschaft wie die Versammlungsfreiheit.

Die Pressefreiheit beschränkt sich dabei nicht auf das bloße Recht, Nachrichten und Meinungen zu veröffentlichen. Nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichthofs für Menschenrechte bildet schon das Sammeln von Informationen einen wesentlichen Vorbereitungsschritt für den Journalismus und stellt daher einen inhärenten und geschützten Teil der Pressefreiheit dar. Das ist logisch – worüber ließe sich schon sinnvoll berichten, wenn investigative Recherchen gar nicht erlaubt wären.

Wenn also das Betreten der Fahrbahn zur Ausübung der Versammlungsfreiheit beziehungsweise des Demonstrationsrechts zulässig ist, kann nichts anderes gelten, soweit dies auch für die Ausübung der Pressefreiheit erforderlich ist. In beiden Fällen ist das an sich strafbare Verhalten gerechtfertigt, und die Strafbestimmung des § 76 Abs 1 StVO tritt hinter das jeweilige Grundrecht, das andernfalls nicht im notwendigen Ausmaß ausübbar wäre. Außerdem muss man sich vor Augen halten, von welchem verwaltungsrechtlichen Eingriff eigentlich die Rede ist: das Betreten einer abgesperrten Fahrbahn. Es besteht hier ohnedies keine zusätzliche Beeinträchtigung des öffentlichen Verkehrs.

Unzulässige Einschränkung

Zurück zu den Journalistinnen und Journalisten. Müssen diese nun einen Demonstrationszug direkt auf der Fahrbahn begleiten, um ihre Arbeit ausüben zu können? Ja, müssen sie. Bei Berichterstattungen über Demonstrationen geht es fast immer um die Darstellung der wahren Beweggründe der Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Oft auch darum, welche Personen konkret teilnehmen und wie sie sich bei der Demonstration verhalten. Dazu sind Interviews, Ton- und Bildaufzeichnungen notwendig. Diese können sinnvollerweise nur vor Ort geführt und aufgenommen werden.

Alain Peyrefitte meinte einmal: "Die Presse muss die Freiheit haben, alles zu sagen, damit gewisse Leute nicht die Freiheit haben, alles zu tun." Aber um alles – oder zumindest vieles – sagen zu können, muss die Presse auch recherchieren und einiges tun dürfen. Dazu zählt mit Sicherheit, jene Demonstrantinnen und Demonstranten auf der ohnedies abgesperrten Fahrbahn zu begleiten, über die und deren Anliegen sie berichtet. Jede abweichende Sichtweise würde eine unzulässige Beschränkung der grund- und verfassungsrechtlich geschützten Pressefreiheit darstellen und stünde im offenen Widerspruch zur höchstgerichtlichen Rechtsprechung. (Sascha Jung, 14.10.2022)