Sebastian Kurz blickt zurück und findet für die Beschreibung des Vergangenen viele Floskeln: Vieles hätte er zum Besseren verändern wollen.

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Franz Kafka, der ein ausgesprochen komisches Talent besaß, hätte an den frühen Lebenserinnerungen des jüngsten heimischen Bundeskanzlers vielleicht insgeheim seine Freude gehabt. Sebastian Kurz hat sein druckfrisches Buch mit einer vor allem an sich selbst gerichteten Aufforderung betitelt: "Reden wir über Politik".

Journalistin Conny Bischofberger hat Kurz' Ausführungen – Bekenntnisse einer schönen, vor allem aber unantastbaren Seele – in Prosa gesetzt. Übertriebenen stilistischen Ehrgeiz wird man beiden, dem jungen Altkanzler wie seiner erfahrenen Ghostwriterin, nicht vorwerfen wollen. Seltsamerweise widersetzt Kurz sich halsstarrig dem eigenen Anspruch. Zu ihm selbst als Person fällt ihm nicht viel ein. Gewiss: Auch ihn habe, als blutjungen Außenminister, das Frühaufstehen einige Überwindung gekostet.

Marktorientierter Zugang zur Welt

Wir erinnern uns: Die Frage, wie lange jemand in seiner Matratzenflucht untätig ausharrt, hat den gebürtigen Meidlinger bereits in seiner Funktion als Regierungschef zu polemischen Höchstleistungen getrieben. Politisch möchte man Kurz' Ausführungen deshalb noch nicht nennen. Sein "Zugang" zu Gott, Welt und Putin ist vornehmlich "marktorientiert". Schon den Hosenmatz, der sich in Zogelsdorf bei den Großeltern die Knie aufschlägt, treibt ein eiserner "Gestaltungswille" um.

"Werte" sind ihm das wahre Lebenselixier, sie saugt er begierig aus dem erschlafften Busen der Volkspartei. Solidarität, Fleiß, Verantwortung: Unter Zuhilfenahme von Kurz' verantwortungsethischem Werkzeugkasten ist jede windschiefe Hütte im Nu zusammengezimmert. Freihandel! Hunger nach Erfolg! Produktivitätssteigerung! Wenn nur alle recht fleißig sind, wird aus Österreich im Handumdrehen ein Land, in dem die gesunde Berglandmilch aus allen Molkereidüsen spritzt. Derweil findet, heimlich, still und leise, in den Silicon Valleys rund um den Erdball "Innovation" statt. Global verkäuflich sollten deren Produkte halt sein. Weshalb Kurz Handelshemmnisse kategorisch ablehnt.

Schuld sind die anderen

Alles andere, was unsereinem politisch vorkommen mag, bleibt in "Reden wir über Politik" weithin unberedet. Dass Reinhold Mitterlehner in der Hitze des Chats von ihm einmal als "Oarsch" (sic!) bezeichnet worden ist, stellt der immer noch junge Genius keineswegs in Abrede. Schuld sind trotzdem immer die anderen. Dafür hat Kurz die Balkanroute geschlossen. Soll niemand sagen, am Ballhausplatz hätte nicht irgendeine Art von Innovation stattgefunden. Über so viel Unwillen zur Selbstrechtfertigung könne man getrost hinwegsehen.

Wäre da eben nicht diese Sprache: ein Konglomerat aus Betriebschinesisch und Human-Resources-Kauderwelsch. "Dinge" gehören ein Stück weit "in die richtige Richtung verbessert". Man malt sich nicht ohne stillen Schrecken aus, was wäre, wenn man sie, vielleicht nur so aus Jux und Tollerei, "in die falsche Richtung verbessern" würde. Oder in die richtige Richtung verschlechtern?

Mit Lauda auf ein Schnittlauchbrot

Womit es ausgerechnet das Eingangskapitel dieser vor seelischer Trockenheit knisternden Autobiografie ist, das vielleicht Kafkas Zustimmung gefunden hätte. Mit dem weitaus älteren Niki Lauda verband Kurz eine Freundschaft. Immer dann, wenn Kurz zu einem ihrer Treffen ins Café Imperial geeilt kam, saß Lauda, ruhig sein Schnittlauchbrot verzehrend, bereits auf seinem Stammplatz. Kurz wollte Lauda in Sachen Überpünktlichkeit noch in den Schatten stellen! Prompt erschien er einmal eine halbe Stunde verfrüht, allein: "Wieder saß er bereits da und wartete."

Niki Lauda war, was Kurz hochachtungsvoll vermerkt, ein "Zeitökonom". Nun sollen die Treffen jedoch laut Kurz nie viel länger als eine halbe Stunde gedauert haben. Was wiederum beweist: Zum vorab festgesetzten Termin müssten beide das Imperial schon wieder verlassen gehabt haben. Der Tisch war verwaist. Ganz so, als hätte das Treffen gar niemals stattgefunden.

So geht es einem mit dem ganzen Buch: Man liest und liest darin und erfährt rein gar nichts über die Politik und die Welt – nicht einmal etwas Wissenswertes über Kurz selbst. Ein beinah schon wieder grandioser Akt der Verheimlichung. Putin? "Sehr kühl, diszipliniert, immer gut vorbereitet." Wenn die Weltöffentlichkeit das nur früher gewusst hätte! Jetzt immerhin kann sie es in "Reden wir über Politik" nachlesen. (Ronald Pohl, 14.10.2022)