Die US-amerikanische Schachplattform hat einen kometenhaften Aufstieg hinter sich.

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72 Seiten. So viel Platz brauchte die US-amerikanische Schachplattform chess.com für den sogenannten "Hans Niemann Report", veröffentlicht am 4. Oktober. Dass der Marktführer in Sachen Online-Schach sich zum Skandal um Betrug im Spitzenschach zunächst bedeckt hielt, um dann gleich ein halbes Buch dazu zu veröffentlichen, hat seinen Grund: Die Niemann-Kontroverse drohte zum Marketing-Bumerang für das Unternehmen zu werden, das durch die bevorstehende Übernahme des Konkurrenten Play Magnus Group (der unter anderem die beliebte Plattform chess24 betreibt) um kolportierte 82 Millionen Dollar eigentlich gerade anderweitig beschäftigt war.

2007 von den Studienkollegen Eric Allebest und Jay Severson gestartet, legte chess.com vor allem in den letzten Jahren einen kometenhaften Aufstieg hin. Der stetige Zuwachs an Mitglieder- und Zugriffszahlen (aktuell hat die Seite laut Eigenangaben mehr als 93 Millionen angemeldete User) ging mit einer Ausweitung des Geschäftsfelds einher. Nur Schachspielseite für den Zeitvertreib ist chess.com schon lange nicht mehr, stattdessen tritt man als Produzent von Lehrvideos und Organisator gut dotierter Online-Turniere ebenso in Erscheinung wie als Medium für Schachnews, Plattform für populäre Schachstreamer (in Kooperation mit dem Videoportal Twitch) oder offizieller Broadcaster der Weltmeisterschaft im klassischen Schach.

Ernüchternde Einblicke

Um die Fairness der auf der Plattform ausgetragenen Partien zu gewährleisten, greift chess.com auf eigens entwickelte Anti-Schummel-Software zurück, die Betrüger mit den Mitteln der Statistik selbst dann überführen soll, wenn diese nur selektiv und ausnahmsweise auf die Zugvorschläge von Schachprogrammen zurückgreifen, um ihre Spielstärke illegal zu steigern.

Im Niemann-Report gab das Unternehmen nun erstmals gewisse Einblicke in das Funktionieren des von der Plattform immer wieder als "beste Betrugserkennung der Welt" angepriesenen Systems. Und die gerieten eher ernüchternd: Denn die Bestätigung, dass ihre Cheating-Alarmanlage funktioniert, holt sich die Plattform vorwiegend dadurch, dass sie die vermeintlich überführten Spieler konfrontiert und von ihnen ein umfassendes Geständnis einfordert, andernfalls sie dauerhaft gesperrt werden – für Profistreamer wie Schachprofis mitunter eine finanzielle Katastrophe.

Gestehen die Beschuldigten allerdings ihr Fehlverhalten – so ist es im Niemann-Report dokumentiert –, lässt chess.com auch im Fall gravierenden Betrugs (für Niemann listet die Plattform über 100 Fälle vermuteten Online-Schummelns auf) Gnade vor Recht ergehen: Der Vorfall wird nicht öffentlich gemacht, der Missetäter darf mit einem neuen, sauberen Account von vorne beginnen.

Fehlende Strukturen

Zu kritisieren ist daran mehreres: Wie nun öffentlich geworden, schließt chess.com hauptsächlich aufgrund von Geständnissen auf die Validität seiner Antibetrugssoftware, die durch eine Art legale Erpressung zustande kommen. Dass Beschuldigte sich unter diesen Umständen veranlasst fühlen könnten, Betrug auch dann zuzugeben, wenn er gar nicht stattgefunden hat, ist nur ein Problem; ein anderes, dass die Plattform durch das Zurückhalten der Informationen darüber, wer bereits als Betrüger überführt wurde, die Schachwelt bei der Suche nach ihren schwarzen Schafen im Dunkeln tappen lässt. Allein der im Report nebenbei hingestreute Hinweis, dass bereits vier Spieler aus den Top 100 der Weltrangliste Cheating gegenüber chess.com gestanden haben sollen, heizte die brodelnde Gerüchteküche weiter an.

Hinter all dem Aufruhr verbirgt sich jedoch auch ein grundlegenderes Problem, das der Weltschachbund Fide dringend angehen müsste: Durch den massiven Bedeutungsgewinn des Online-Schachs in den vergangenen Jahren fehlt es in diesem Bereich an unparteiischen sportlichen Strukturen. Privatunternehmen mit Profitinteresse, wie chess.com eines ist, treten beim Thema Betrug als Richter und Henker zugleich auf. Die Folge sind Interessenkonflikte, die sich wie im Fall Niemann zu den Sport beschädigenden Skandalen auswachsen können.

Schwankender Weltmeister

Auch Magnus Carlsen hat unterdessen offenbar noch zu keiner klaren Linie im Umgang mit Online-Betrügern gefunden. Beim European Club Cup in Mayrhofen im Zillertal, bei dem der Schachweltmeister vergangene Woche für seinen norwegischen Verein Offerspill am ersten Brett erfolgreich agierte, kam es in der letzten Runde zum Aufeinandertreffen Carlsens mit dem 22-jährigen iranischen Großmeister Parham Maghsoodloo. Maghsoodloo war 2020 von der Plattform lichess.org wegen Computerbetrugs gesperrt worden. Carlsen, der nach dem Niemann-Skandal angekündigt hatte, generell nicht mehr gegen des Betrugs überführte Spieler antreten zu wollen, trennte sich mit den schwarzen Steinen remis vom iranischen Nachwuchsstar. (Anatol Vitouch, 15.10.2022)