Thomas Müller erinnert sich an Dahmer als Manipulator.

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Jeffrey Dahmer wird in der Netflix-Serie von Evan Peters dargestellt. In den zehn Folgen wird nicht nur das Morden thematisiert, sondern auch die Frage, warum der Serienkiller so lange unentdeckt töten konnte.

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Dahmer – Monster heißt die zehnteilige Serie, die beim Streaming-Anbieter Netflix derzeit weltweit höchst gefragt ist. In düsteren Bildern wird die Geschichte des Serienkillers Jeffrey Dahmer nacherzählt.

Der 1960 Geborene ermordete zwischen 1978 und 1991 siebzehn junge Männer, die überwiegend aus der Homosexuellenszene von Milwaukee stammten. Er verging sich an ihren Leichen und bewahrte Teile der Toten auch in seinem Appartement auf.

Im Gefängnis wurde er 1994 von einem Mithäftling erschlagen. Dahmer wird in der Serie vom US-Schauspieler Evan Peters dargestellt. Der Kriminalpsychologe Thomas Müller hat den echten Dahmer einst im Gefängnis getroffen. Er erinnert sich an dessen einfühlsame Stimme und grauenhafte Fantasien – und lernte von ihm.

STANDARD: Wie kam es zu Ihrer Begegnung mit dem Serienmörder Jeffrey Dahmer?

Müller: Dahmer wurde im Herbst 1991 in Milwaukee, Wisconsin, festgenommen, im Sommer 1992 die Anklage gegen ihn vorbereitet. Es ging um die Frage, ob er zurechnungsfähig war oder nicht. Der Sachverständige für die Verteidigung war damals Bob Ressler, der Begründer der Verhaltensforschungseinheit beim FBI. Er war einer meiner Ausbildner, und ich Jungspund durfte mitkommen, als Ressler Dahmer im Hochsicherheitstrakt befragte.

"So eine Stimme habe ich vorher und auch nachher nie wieder gehört"

STANDARD: Welche Erinnerungen haben Sie an den damals 32-jährigen Dahmer?

Müller: Er rauchte Kette und hatte eine besondere Stimme, sehr einfühlsam, sanft, leise und manipulierend. So eine Stimme habe ich vorher und auch nachher nie wieder gehört. Da ist mir klar geworden, dass dieser Mann rein aufgrund seiner Stimme und seiner Fähigkeit, auf Menschen einzugehen, in der Lage war, diese jungen Männer aus dem Schutz der Gesellschaft herauszuholen und zu sich nach Hause zu locken.

STANDARD: War Dahmer bei den Befragungen gesprächig?

Müller: Er war durchaus auskunftsfreudig und ist mit uns in Bereiche seiner Fantasien gegangen, da wollten wir ehrlich gesagt gar nicht mehr hin. Das war so jenseits jeglicher Vorstellungskraft. Ich habe so etwas später nur noch ganz, ganz selten mehr erlebt.

STANDARD: Wo kam Ihnen Vergleichbares später noch einmal unter?

Müller: In Deutschland. Der Mann heißt Frank Gust und wurde von den Medien als Rhein-Ruhr-Ripper bezeichnet. Er brachte in den Neunzigerjahren vier Frauen um, ich habe ihn im Gefängnis gemeinsam mit Bob Ressler befragt. Seine Vorgehensweise hat jener von Jeffrey Dahmer sehr geähnelt. Aber der Beginn dieser außergewöhnlichen Fantasien war Jeffrey Dahmer. Das Interview mit ihm in den USA war für mich wirklich prägend. Ich lernte, dass das Wissen in der Kriminalpsychologie von jenen ausgeht, die außergewöhnliche Straftaten begehen.

STANDARD: Was genau haben Sie gelernt?

Müller: Dahmer hat uns von seiner Tatausführung her dazu gebracht, die in den Neunzigerjahren bestehenden Klassifikationen zu überdenken. Bis dahin ging man von zwei unterschiedlichen Ausprägungen aus. Einerseits gab es planvoll vorgehende Täter, die ihre Opfer aussuchten und dazu brachten, sich selbst in Gefahr zu begeben. Andererseits kannte man "disorganized offender" – Täter also, die ungeplant vorgehen.

"Der Serienmörder unterscheidet sich vom einfachen Mörder nur durch die Anzahl der Delikte"

STANDARD: Was machte Dahmer?

Müller: Er zeigte uns, dass es eine "mixed category" gibt, das war damals noch unbekannt. Einerseits ging er nach Plan vor, hing in Bars herum und brachte dann mit seiner einfühlsamen, manipulierenden Stimme junge Männer dazu, mit ihm zu kommen. Später aber switchte er zu einem sehr planlosen Täter. Er führte sexuelle Handlungen an Leichen durch, fügte ihnen postmortale Verletzungen zu und behielt auch Leichenteile bei sich.

STANDARD: Haben Sie Dahmers Schilderungen damals schockiert?

Müller: Es war schon außergewöhnlich. Aber wenn man sich mit Kriminalpsychologie beschäftigt, dann ist es ein Bereich, der dazugehört. Wer Rechtsmedizin studiert, muss sich auch damit auseinandersetzen, dass er oder sie wissenschaftlich und pragmatisch an und mit toten Menschen arbeitet.

STANDARD: Warum werden manche Menschen zu Serienmördern?

Müller: Der Serienmörder unterscheidet sich vom einfachen Mörder nur durch die Anzahl der Delikte. Es fängt ja auch jeder Serienmörder mit dem ersten Delikt an.

STANDARD: Man muss also vielmehr fragen: Warum hören andere nach dem ersten Mal auf?

Müller: Dass jemand nach dem ersten Mord noch eine zweite, dritte und vierte Person tötet, hängt mit dem Motiv zusammen. Die meisten Personen, die multiple Tötungsdelikte machen – also an mehreren Orten mehrere Menschen töten –, definieren sich dadurch, dass dazwischen eine Abkühlungsphase ist.

STANDARD: Was passiert in dieser?

Müller: Zunächst töten diese Menschen und leben eine Zeitlang in der Fantasie, die sie genährt haben, weil sie eben ein Delikt begangen haben. Aber irgendwann reicht diese Fantasie nicht mehr. Deswegen müssen sie sich eine neue suchen. Bei einfachen Mördern liegt diese Motivlage nicht vor. Sie haben Hass, Wut, eine außergewöhnliche Aggression gegen eine Person. Diese wird umgebracht, und dann hat sich die Sache erledigt.

"Wir werten nicht, wir sagen nicht, ob jemand krank ist oder nicht, schuldig oder unschuldig. Wir wollen Informationen über ein bestimmtes Verhalten bekommen."

STANDARD: Wie haben Sie von Serienmördern gelernt?

Müller: Es geht nicht um Verständnis, sondern darum, eine Erklärung für ein bestimmtes Verhalten zu finden, um dann Zuordnungen treffen zu können: Wenn jemand dieses Verhalten zeigt, dann ist eine gewisse Schlussfolgerung bei einem neuen Tatort, bei dem man den Täter noch nicht kennt, zulässig. Als Kriminalpsychologe kann ich somit Verhalten interpretieren, obwohl ich es noch nie selbst ausprobiert habe.

STANDARD: Verfolgt Sie manches in den Schlaf?

Müller: Nein. Definitionen, die in die Emotionalität gehen – wie etwa "besonders grausam", "besonders brutal" oder "schockierend" –, haben wir in der Kriminalpsychologie nicht. Wir werten nicht, wir sagen nicht, ob jemand krank ist oder nicht, schuldig oder unschuldig. Wir wollen Informationen über ein bestimmtes Verhalten bekommen.

STANDARD: Serienmörder begegnen uns reihenweise im Kino und Fernsehen. Warum sind so viele Menschen davon fasziniert?

Müller: Das Phänomen der multiplen Tötungsdelikte ist im Verhältnis zur Gesamtkriminalität ja ein verschwindend kleines. Aber das Verbrechen und die Destruktivität per se sind etwas, das reizt. Man kann heute viel Fachwissen googeln. Doch überall dort, wo keine klaren Antworten auf ein Phänomen erhältlich sind, ist das Interesse groß.

STANDARD: Schauen Sie privat Krimis?

Müller: Nein. Ich habe keinen Fernseher. Und ich rate jungen Menschen auch, sich mehr mit herausragenden Fragestellungen wie Umweltschutz, Friedensforschung, dem Abbau von kulturellen Grenzen zu beschäftigen, als sich mit einem hochkomplexen, aber doch sehr seltenen Phänomen der Serienmörder auseinanderzusetzen. Da kann man außer ein bisschen Nervenkitzel nichts gewinnen. (Birgit Baumann, 16.10.2022)