Szene einer tanzgeschichtlichen Besessenheit im Wiener Brut-Theater: Die Tänzerin Núria Guiu jagt in Ingri Fiksdals "Medium" die Geister von 30 choreografischen Werken durch ihren Körper.

Foto: Kristine Jacobsen

Was einmal das Friseurgeschäft "Lebenslust" war, ist jetzt gerade Schauplatz eines ungewöhnlichen Tanzprojekts: The Emotional Season. Diese von dem Wiener Choreografenpaar Anna Maria Nowak und Alexander Gottfarb gestaltete und vom Wuk ermöglichte "Saison" bietet täglich außer sonntags ein performatives Programm. Man kann nachmittags vorbeischauen und sich überraschen lassen, was gerade passiert.

"Messy emotions"

So war’s zum Beispiel gerade am Donnerstag kurz nach zwei Uhr. Vogelweidplatz 13, im 15. Bezirk, nicht weit von Lugners "City": Die Wiener Tänzerin Charlotta Ruth legt gerade ein fantastisches Solo zum Thema Peinlichkeit hin. Das Lokal mit Holzboden wurde sauber ausgeräumt und weiß gefärbelt. Ein Plakat an der Wand informiert darüber, dass es um "messy emotions" geht und man gerade über "embarrassment" arbeitet. Ruth ist Teil des Projektlabels Der Betrieb. Neben Nowak und Gottfarb arbeiten auch der Tänzer Arttu Palmio, die Schauspielerin Anna Mendelssohn und die Choreografin Karin Pauer mit.Charlotta Ruth zeigt einen Körper, der sich geniert und von jener kaum kontrollierbaren Betretenheit besessen ist, die wir alle aus bestimmten Verlegenheiten kennen.

An die Wand hinter der Tänzerin sind Textpassagen projiziert. Peinlichkeit führe zu Konformität, heißt es da zum Beispiel, oder dass sie einen immer unerwartet überfalle. Die Tänzerin improvisiert einen Monolog, der unterstreicht, dass sie die Peinlichkeit nicht einfach nur tänzerisch vorführt, sondern aus der Darstellungsdistanz reflektiert.

Gegenwartsnerv

Schon allein mit diesem Teil seines Programms trifft der Betrieb von Nowak und Gottfarb – die beiden waren bereits mit ähnlichen Projekten erfolgreich, zuletzt bei Impulstanz – einen Nerv unserer Gegenwart. Denn mit dem Peinlichen und gegen dasselbe wird aktuell heftig gekämpft: zwischen Shaming und Coolness.

Dazu passt auch die Selbstbeherrschung, mit der die Tänzerin Núria Guiu in dem Tanzsolo Medium der norwegischen Choreografin Ingri Fiksdal auftritt. In diesem (bei uns vom Brut-Theater präsentierten) Stück geht es ebenfalls um eine Besessenheit – aber die ist eher tanzgeschichtlich gemeint.

Geister historischer Werke

Fiksdal jagt die Geister von mehr als dreißig teils großen historischen Werken – von Pina Bausch über Wim Vandekeybus und Anne Teresa De Keersmaeker bis hin zu Mary Wigman – durch Guius Körper. Unabsichtlich oder ungenannt ist sogar Mette Ingvartsens berühmtes Stück ohne Tänzer Evaporated Landscapes dabei. Ein bisserl peinlich wird diese gekonnt getanzte Zitatbeschwörung erst, sobald Guiu die Fassung verliert und etwa im Kreis laufend mit ihrer Rolle als Medium zu kämpfen beginnt.

Auch der Geist der israelischen Choreografin Sharon Eyal (Killer Pig, 2009) befindet sich unter Fiksdals Tanzzitaten. Und wie es der Zufall will, gastiert Eyal diesen Samstag mit ihrem äußerst tanzstarken Gruppenstück Soul Chain einmalig im Festspielhaus St. Pölten. Das Peinliche – im Sinn von "schmerzhaft" – daran ist, dass das Stück nicht öfter gezeigt wird. (Helmut Ploebst, 14.10.2022)